Nach 69 Folgen in 17 Jahren mit über 3500 Besuchern

(Nicht nur) Reden in Kötzschenbroda schweigt vorerst

Am Ende des letzten Jahrtausends hatten sie furios im Luthersaal der Friedenskirche begonnen mit alle acht Sekunden von der Orgelempore rollenden Zeitkugeln und einer Dialogrede über Zeitenwenden und Zeitgefühl. Sie wurden ins Leben gerufen von Pfarrer Wolfram Salzmann, Thomas Gerlach und dem Autor, in den ersten Jahren unterstützt und mitgestaltet von einer Gruppe der evangelischen Friedenskirchengemeinde. 17 Jahre später haben sich die Kugeln vorerst ausgerollt. Die Begründer von „(nicht nur) Reden in Kötzschenbroda“ legen den Staffelstab ab, ohne zu wissen, ob, wann und wie er wieder aufgenommen wird.
In jedem Winter zwischen 1999 und 2016 haben zwischen zwei und sieben Reden den Luthersaal in Altkötzschzenbroda oft mit weit über hundert, manchmal aber auch nur mit knapp dreißig Besuchern mehr oder weniger gefüllt. Das Konzept war: aus der Kirchengemeinde heraus sollten für alle Bürger der Stadt aktuelle regionale und überregionale, persönliche und politische, kulturelle-religiöse und soziale Themen aufgegriffen und zur Diskussion gestellt werden. Mit den Reden verbunden waren immer Diskussionen, meistens musikalische Zwischenspiele und anfangs in der Regel auch eine themenspezifische Gestaltung des Vortragsraumes. Die Redner und Rednerinnen kamen überwiegend aus der Region, gelegentlich aber auch aus Hamburg und Stuttgart, Weimar und Berlin.
Aus dem großen Spektrum der Themen sollen hier beispielhaft einige genannt werden. Speziell auf Radebeuler Probleme bezogen sich Reden über Zwangsarbeit in unseren Weinbergen im Dritten Reich, über den Schutz vor dem Elbehochwasser, zu OB- und anderen Wahlen, zu Gewalt in der Schule und zu Courage und Asyl, auch – zwecks Einstimmung auf das jährliche Wandertheaterfestival im Herbst oder zu Inszenierungen der Landesbühnen – zu Mythen und Märchen, historischen Maskenspielen und Medea. Werte unseres Lebens standen im Fokus zum Beispiel bei „Partnerschaft heute“, „Homosexualität“, „Schenkenkönnen und Beschenktwerden“, „Barmherzig- und Gerechtsein“, „Sterben wahrnehmen“. Zur Literatur- und Kunstgeschichte gab es Abende beispielsweise über „drei Weise aus dem Morgenland“ und „die Begegnung der Königin von Saba mit König Salomo“. Im Mittelpunkt von Religionsdialogen standen Judentum, Islam und Buddhismus. Politische Themen waren u.a. – international: – Palästina und der Nahe Osten, die Revolution im Iran und ihre Konsequenzen, Europa und der Euro, die Finanz- und Bankenkrise sowie Begrenzung des Wachstums, – national: – Demokratieverständnis und Verfassung, Datenschutz und Bürgerfreiheit, Arbeitsplätze und Mitbestimmung.
Der Radebeuler Notschriftenverlag veröffentlichte vier der Reden und ihre Diskussion in kleinen Buchausgaben, darunter „Paulus und der verborgene Gott“ in Anton Dietrichs monumentalem Zittauer Historiengemälde, „Märchen und Mythen“ über Geschichten vom Ursprung unserer Kultur, und „es begibt sich aber zu der Zeit“ mit Reden und Trommlers Musik zur Weihnachtszeit. Einen besonderen Höhepunkt bildete die Diskussion über Resozialisierung und Strafvollzug, zu der sich der Luthersaal durch mit Kreide skizzierte Zellen in ein Gefängnis verwandelte und vier Dresdner Gefangene zusammen mit vier ehrenamtlichen Mitarbeiter_innen auf dem Podium saßen, ohne dass erkennbar wurde, wer zu welcher Gruppe gehörte.
Eine Reihe von Vorträgen fand überregional Beachtung. So erschien die Nikolausrede in polnischer Übersetzung im dem deutschen Spiegel vergleichbaren Warschauer „Forum“, die deutsche Fassung in der „Frankfurter Rundschau“ und in Ost-West-Magazinen. Die Königin von Saba gelangte in fast alle großen deutschsprachigen Tageszeitungen (Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine, Frankfurter Rundschau, Neue Zürcher Zeitung), dazu zweimal in Deutschlandradio Kultur und MDR-Figaro. Sie wurde auch in verschiedenen Fachzeitschriften gewürdigt. Sächsische Zeitung bzw. Frankfurter Rundschau druckten ganzseitig die Reden über „Barmherzigkeit und Gerechtigkeit“, „Buddha und Jesus“ und über Nikolaus von Myra und die Solidarität.
Über Radebeul hinaus wirkten die „Reden in Kötzschenbroda“ auch durch den Radebeuler Courage-Preis. In einer der ersten Reden hatten sich im Jahr 2000 die damals sieben Kandidaten der OB-Wahl vorgestellt. Auf die Frage, was die Kandidaten im Falle ihrer Wahl dafür tun würden, dass Radebeul wieder – wie 1645 durch den Waffenstillstand von Kötzschenbroda, der den 30jährigen Krieg in unserem Raum vorzeitig beendete – als Friedensstadt bekannt würde, hatte der damalige Kandidat Bert Wendsche die Auslobung eines Friedenspreises genannt. Ein halbes Jahr nach seiner Wahl haben ihn die drei Begründer der „Reden“ daran erinnert. Das war die Geburtsstunde des Courage-Preises. Er wurde damals mit der Absicht gegründet, gestützt von einer Bürgerinitiative und unabhängig von Parteipolitik, insbesondere diejenigen Personen und Gruppen aus Osteuropa u.a. mit einem Preisgeld der Stadt zu fördern, die unter schwierigen Bedingungen den Mut haben, einen Beitrag für Frieden und soziale Gerechtigkeit in ihrem Land und in Europa zu leisten.
An dieser Stelle seien abschließend ein paar kritische Bemerkungen gestattet. Der Courage-Preis geriet leider in parteipolitische Kontroversen, und ungewöhnlicherweise übernahm der OB den Vorsitz der Bürgerinitiative. Der große Kreis der Planer der „Reden“ reduzierte sich im Laufe der Zeit auf die drei Impulsgeber. Das lokale mediale Interesse war sehr gering: die Radebeuler Seiten der Tageszeitungen kündigten zwar die Veranstaltungen an, berichteten aber anders als über sonstige kulturelle und politische Ereignisse so gut wie nie darüber; das blieb den überregionalen Medien und Zeitungsseiten vorbehalten. Das Kulturamt der Stadt erklärte zwar sein Interesse an einer Mitgestaltung der „Reden“, konnte dies aber im eigenen Haus nicht umsetzen. Wo nicht unmittelbare persönliche Interessen berührt waren oder ein besonderes kulturelles Erlebnis zu erwarten war oder eine brisante lokalpolitische Frage zur Diskussion stand, war die Resonanz eher verhalten. Der Wunsch der Veranstalter nach einem grundlegenden demokratischen Gesprächsforum auf lokaler Basis, aber im überregionalen Horizont, konnte so nur sehr bedingt erfüllt werden. Spätere werden es besser ausrichten…?
Ulfrid Kleinert

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