Die 30er Jahre des 19. Jahrhunderts waren für das Königreich Sachsen eine Zeit tief greifender Veränderungen. Durch die Verfassung vom 4. September 1831 wurde Sachsen zur konstitutionellen Monarchie. Reformen von Staatsapparat und Verwaltung, Agrarverfassung, Militär-, Justiz- und Schulwesen kamen in Gang, und die durch den Eisenbahnbau ermöglichte Ausbreitung der Dampfmaschine als Antriebskraft läutete den Durchbruch der Industrialisierung ein. Für den ländlichen Raum und damit auch für die Lößnitz waren zwei Reformgesetze von besonderer Bedeutung. Das eine, „über Ablösungen und Gemeinheitsteilungen“ vom 17. März 1832, regelte die Überwindung feudaler Strukturen in der Landwirtschaft. Das andere, vor ziemlich genau 170 Jahren verabschiedete Gesetz trug dazu bei, dass sich auch auf dem Dorfe so etwas wie Bürgergeist entwickeln konnte:
Die sächsische Landgemeindeordnung von 1838
Was die Verwaltung der im engeren Sinne gemeindlichen Angelegenheiten angeht, herrschten in den Lößnitzdörfern noch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts recht altertümliche Verhältnisse. Tonangebend waren allein die begüterten Bauern und Gartennahrungsbesitzer, die in ihrer Gesamtheit die so genannte „Altgemeinde“ bildeten. Der Altgemeinde stand eine „Localgerichtsperson“ gegenüber, die zwar aus ihrer Mitte stammte, aber nicht von der Gemeinde, sondern vom jeweiligen Grundherrn eingesetzt wurde. Dieser Dorfrichter sorgte für die Aufbringung der zu zahlenden Abgaben, regelte die Ableistung der Frondienste und besaß eine gewisse Sanktionsgewalt, um die dörfliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Einmal im Jahr kam die Altgemeinde zum Gerichtstag zusammen, auf dem die althergebrachten Dorfrügen verlesen, im Beisein von Vertretern der Grundherrschaft Streitigkeiten entschieden und Beschlüsse zu wichtigen Gemeindeangelegenheiten gefasst wurden. Landlose Häusler und besitzlose Hausgenossen, deren Anteil an der Dorfbevölkerung seit dem 18. Jahrhundert stark zugenommen hatte, waren im Rat der Altgemeinde ebenso wenig stimmberechtigt wie die Besitzer der zur Gemeindeflur gehörigen, aber außerhalb des eigentlichen Dorfes gelegenen Weingüter, obwohl auch diese Gruppen ihren Beitrag zu den Gemeindelasten zu leisten hatten. Gehörten die Güter des Dorfes anteilig unter verschiedene Grundherrschaften, wie es zum Beispiel in Zitzschewig der Fall war, bestanden entsprechend auch mehrere Gemeinden mit je eigenen Richtern, was das ganze Dorf betreffende Entscheidungen zusätzlich verkomplizierte.
Die im Rahmen der sächsischen Verwaltungsreform am 11. November 1838 publizierte Landgemeindeordnung für das Königreich Sachsen, die am 1. Mai 1839 in Kraft trat, regelte die Verhältnisse innerhalb der Dorfgemeinden und zwischen Dorfgemeinde und Staat neu und für damalige Verhältnisse deutschlandweit vorbildlich. Wichtigste Neuerung war die Einführung der kommunalen Selbstverwaltung der inneren Gemeindeangelegenheiten durch gewählte Vertreter der Einwohnerschaft. Im Unterschied zur Altgemeinde, die nur die alteingesessenen Besitzer landwirtschaftlicher Betriebe umfasste, gehörten der nun eingeführten „politischen Ortsgemeinde“ alle selbständigen Einwohner des jeweiligen Dorfes an. Ansässige Gemeindemitglieder, sprich Hausbesitzer, erhielten das aktive, unansässige lediglich ein passives Wahlrecht für den Gemeinderat, der fortan „die beratende und beschlussfassende Behörde in allen Gemeindeangelegenheiten“ bildete. Dieser wählte einen Gemeindevorstand, der seine Verhandlungen zu leiten und seine Beschlüsse umzusetzen hatte, die Gemeinde nach außen repräsentierte, das Siegel und die Akten verwahrte und das Kassen- und Rechnungswesen der Gemeinde besorgte. Ihm standen ein oder mehrere gewählte Gemeindeälteste zur Seite.
Gewählt wurde der Gemeinderat nach einem Klassensystem, das sich an der Sozialstruktur des jeweiligen Dorfes orientierte. In den Gemeinderäten der Lößnitzortschaften waren in je unterschiedlicher Gewichtung die Klassen der Bauern, Gärtner, Weinbergsbesitzer, Häusler und Unangesessenen vertreten. Größe und Gewichtung des Gremiums richteten sich nach den örtlichen Verhältnissen. Während die Vertreter der Altgemeinde in Kötzschenbroda zum Beispiel mit sechs von insgesamt acht Sitzen im ersten Gemeinderat die Oberhand behielten, hatten sie in Naundorf nur fünf von zehn und in Zitzschewig gar nur drei von neun Sitzen inne und waren damit nicht mehr, wie früher, allein tonangebend. Der bisher gemeinsame Grundbesitz der Altgemeinden – in Naundorf etwa betraf das den Himmelsbusch – wurde durch die Landgemeindeordnung allerdings nicht angetastet, sondern, in diesem Fall 1847 nach langwierigen Auseinandersetzungen zwischen der politischen und der Altgemeinde, an die Mitglieder der letzteren aufgeteilt.
Beaufsichtigt wurde die Amtsführung der neuen Selbstverwaltungsgremien durch die jeweilige Ortsobrigkeit. Eine anteilige Unterstellung eines Dorfes unter verschiedene Behörden, wie vorher in Zitzschewig, das teils dem Dresdner Rat, teils dem Prokuraturamt Meißen unterstanden hatte, schloss die Landgemeindeordnung jedoch aus. Zitzschewig wurde im Ganzen der Obrigkeit und damit – Verwaltung und Justiz waren noch eng verflochten – auch der niederen Gerichtsbarkeit des Dresdner Rates unterstellt. Die Kompetenzverteilung zwischen den Selbstverwaltungsorganen und der aufsichtführenden Behörde waren in dem umfangreichen Gesetz detailliert geregelt, ebenso der Instanzenweg bei auftretenden Konflikten. Die polizeiliche Lokalaufsicht blieb Sache der Ortsobrigkeit, und auch die Institution des von dieser eingesetzten Ortsrichters blieb zunächst bestehen.
Auch die Abgrenzung der Gemeindebezirke wurde in der Landgemeindeordnung neu geregelt. Grundstücke, die bisher außerhalb eines Gemeindeverbandes gelegen hatten, mussten sich nun entweder einer bestehenden Gemeinde anschließen oder, wenn die entsprechenden Voraussetzungen vorlagen, zu mehreren eine neue Landgemeinde bilden. Für die Lößnitz hatte das weit reichende Folgen, denn hier waren die außerhalb der eigentlichen Dörfer gelegenen Weingüter von dieser Regelung betroffen. In Zitzschewig und Naundorf wurden sie ganz oder teilweise in die Gemeinde integriert. Die Mitglieder der 1822 bzw. 1832 gebildeten Kommunalverbände von Ober- und Niederlößnitz dagegen mussten diese nun in „politische Gemeinden“ überführen, was mit der Übernahme zusätzlicher gemeindlicher Verantwortlichkeiten, etwa auf dem Gebiet der Armenversorgung, verbunden war. Rechnerisch waren so bis August 1839 aus den ehemals acht Lößnitzdörfern zehn Lößnitzgemeinden geworden. Tatsächlich waren es aber nur neuneinhalb, denn das Häuslerdörfchen Fürstenhain, das nicht einmal die für die Bildung eines eigenen Gemeinderates erforderlichen 25 selbständigen Hausbesitzer aufweisen konnte, schloss noch im November desselben Jahres einen Vertrag mit Kötzschenbroda, der die gemeinsame Wahrnehmung einiger wesentlicher kommunaler Obliegenheiten vorsah. Im Gegenzug erhielt Fürstenhain einen Sitz im Kötzschenbrodaer Gemeinderat.
So wie die Verfassung von 1831, in einem freilich noch ziemlich abstrakten Sinne, aus Untertanen Staatsbürger gemacht hatte, trug die Landgemeindeordnung von 1838, die von einem namhaften sächsischen Juristen noch Jahrzehnte später als „ein wahres Meisterwerk organisatorischer Gesetzgebungskunst“ gepriesen wurde, zur politischen und sozialen Emanziaption der Landbevölkerung bei. Das blieb nicht ohne Wirkung. Der bedeutende Sozialökonom und Statistiker Ernst Engel (1821-1896) stellte schon 1853 einen gründlichen und positiven Wandel der dörflichen Zustände in Sachsen fest. Die Landgemeindeordnung von 1838, deren Tragweite im gewöhnlichen Leben viel zu sehr unterschätzt werde, nennt er in diesem Zusammenhang „ein bedeutendes Monument in der Entwickelungsgeschichte der Landgemeinden. Indem sie jede solche ermächtigt, ihre Angelegenheiten selbst, durch die aus ihrer Mitte dazu erwählten Personen zu verwalten; indem sie ferner die Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten nicht in die Hände einer von Alters her bevorrechteten Klasse legte; indem sie die Kompetenz der Gemeindeobrigkeit fest normierte, hat sie den Bewohnern der Dörfer einen hohen Grad Selbständigkeit gegeben und denselben einen öffentlichen Geist eingehaucht, der den politischen Unterschied zwischen den Bewohnern der Städte und Dörfer nach und nach nur zu einem historischen machen muss.“
Frank Andert