Fünfundzwanzig Jahre Vorschau und Rückblick
Ums besser genießen zu können – hier noch mal in Worten und zum Mitschreiben: Fünfundzwanzig Jahre: Silberhochzeit, hat Sascha Graedtke geschrieben: da beginnt das große „Weißtdunoch.“
Silberhochzeit also: Da ist die Liebe längst Gewohnheit geworden. Wir geben uns abgeklärt, die Glut von einst ist der Routine und der Erfahrung gewichen, aber noch nicht so ganz vergessen. Der eine oder die andere sieht die letzte Chance schwinden, noch mal was Neues ausprobieren zu können. Wir kennen einander, hören schon am Türgeräusch, am Hall der Schritte im Treppenhaus Enttäuschung oder Freude. Die Kinder sind raus soweit, hängen vielleicht noch ein bißchen am Konto, denn das Australien-Jahr bezahlt sich nicht allein. Aber sie haben ihre Zukunft selbst in die Hand genommen, uns aus der Verantwortung ent- und uns unserer eigenen Zukunft selbst überlassen. Das war nicht einfach, denn sie wissen ganz genau, welche Aktien sie daran haben, daß alles bis heute gehalten hat. Wir sind nun, leider endlich, etwas ratlos auf uns selbst geworfen: Silberhochzeit: Fünfundzwanzig Jahre Gemeinsamkeit.
Der Vergleich illustriert die zeitliche Tiefe des Ereignisses, aber, was sagt das schon. Zeit ist viel mehr, als abgelaufene Uhren, Zeit ist Gelegenheit zum Wachsen.
Als Vorschau und Rückblick im Mai 1990 aus der Taufe gehoben wurde, dachte noch niemand an heute – selbst das Jahr 2000 lag noch schier unerreichbar vor uns. Es ging um das frei formulierte Wort, es ging um Emanzipation. Der Wille hatte einen Weg gefunden. Ich weiß nicht mehr, was größer war: Das Erstaunen darüber, ohne Lizenz und Druckgenehmigung ein Heft herausgeben, oder die Begeisterung, frei von der (damals noch intakten) Leber weg schreiben zu können.
Es war eine Begeisterung, die es möglich machte, daß Rainer Roßberg seine Manuskripte noch handschriftlich bei der Redaktion abliefern konnte. Die Begeisterung hat Eberhard Gehrt die Feder geführt, einem Manne, der nicht nur dem Kirchenvolk in schwieriger Zeit durch Geradlinigkeit und Glaubensfestigkeit ein Halt gewesen ist. Die Begeisterung war es, die Lieselotte Schließer – unser wandelndes Stadtarchiv – nicht müde werden ließ, in Archivakten nicht nur zu blättern, sondern die Lesefrüchte auch für alle aufzubereiten.
Die Begeisterung hat schließlich auch Tine Schulze-Gerlach immer wieder neue Lößnitzbegegnungen aufschreiben lassen.
Sie alle haben bis zum letzten Atemzug an ihrer Begeisterung der ersten Stunde festgehalten. Sie sitzen nun schon geraume Zeit mit dem Sonnenuhrliebhaber Dr. Richter und dem jungen David Schmidt im Vorschau-Himmel wo sie interessiert das Geschehen beobachten und auch ein wenig auf uns warten.
Aber ich sprach von Begeisterung. Die ließ sich nämlich auch dann nicht bremsen, als die Stadt dem Heft die Freundschaft kündigte und die Finanzierung einstellte. Da war es vor allem Dieter Malschewski, der als Redakteur der ersten Stunde den Willen weiter auf Weg hielt und dem deshalb, aber nicht nur deshalb, nun auch beim Ahnenkolloquium der Ehrenvorsitz gebührt.
Es wird wohl ein ewiges Geheimnis bleiben, wie es wem gelungen ist die Euphorie des 89er Herbstes über knapp 300 Hefte hin immer wieder zu erneuern. Ich selbst hatte ja das Glück, schon im ersten Heft vertreten zu sein, und ich bin der Vorschau noch kein bißchen müde. Auch beeindruckt es mich immer wieder, wie aus den damaligen Herbstwirren, etwas derart Dauerhaftes herauswachsen konnte. Das war keinesfalls selbstverständlich.
Die alsbaldige gesellschaftliche Orientierung hin zu einer sogenannten marktkonformen Demokratie, die es in Wirklichkeit ebenso wenig geben kann, wie es einen realexistierenden Sozialismus geben konnte, hätte nämlich das rasche Eingehen des frischen Pflänzchens zur Folge haben müssen. In solcher Absicht wurden ja dann auch sehr schnell die öffentlichen Zuwendungen gestrichen. Die Vorschau – und in meinen Augen ist das ihr größter Vorzug – ist nämlich gerade nicht marktkonform. Wohl erfüllt sie eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, indem sie viel Geld kostet (und sie könnte noch viel mehr kosten, wenn Zeilenhonorare gezahlt würden). Die zweitwichtigste aber erfüllt sie nicht: sie bringt nichts ein, sie erzielt keinen Erlös. Sie hat einfach keinen Markt, weshalb sehr schnell der Versuch aufgegeben worden ist, sie auf diesen zu werfen und zu verkaufen.
Die für alle Initiativen tödliche Frage: was bringt uns das? wird hier nun seit fünfundzwanzig Jahren mit zwei Silben beantwortet: Freude – und Freude ist (noch) keine betriebswirtschaftliche Größe (mit Ausnahme vielleicht bei Freudenhäusern, aber die heißen darum heute auch anders).
In den meisten Fällen wird ja die Frage, was es denn bringt, auch in der Ehe mit diesen beiden Silben beantwortet. Im Rückblick ohnehin, denn die Erinnerung weiß Verwerfungen sehr gut zu glätten. Doch auch in der Vorausschau auf die nun wirklich von allen erhoffte goldene Hochzeit kann nur der schöne Götterfunken im Mittelpunkt stehen. Er allein ist Ansporn, Motivation und zugleich der einzige Grund, weiter in der Zeit zu wachsen. Der Markt wird damit leben müssen, in Sachen Vorschau und Rückblick auch künftig nur eine untergeordnete Rolle zu spielen.
Thomas Gerlach Mai 2015