Aus dem Leben eines Hauses

Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Ich wurde 1896 vom Baumeister Moritz Hugo Grosse erbaut, meine Adresse damals lautete: Kaiserstraße 6, Niederlössnitz. Ich blieb nicht lange im Besitz von Herrn Grosse. Im Jahre 1898 kaufte mich ein Herr von Kauffberg, neun Jahre später ein Herr von Feilitsch und schließlich wurde ich im Jahre 1913 von General Charles Garke erworben. Damit hatte der dauernde Wechsel von Besitzern endlich ein Ende und die Familie Garke und ich sollten für lange Zeit durch schöne und schwere Zeiten miteinander gehen.5-2008_ch-garke
Der General – jedermann nannte ihn Excellenz – war als Sohn eines Zahnarztes und Hotelbesitzers 1860 in Amerika geboren. Ob diese merkwürdige Berufskombination typisch für das damalige Amerika war? Rückenprobleme sollen den Zahnarzt zur Aufgabe seiner Praxistätigkeit gezwungen haben. Ein günstiger Kauf eines Hotels mit Restaurant an einem Eisenbahnknotenpunkt schien eine lukrative  Alternative zu sein. Die Mutter kochte, der Vater kassierte nach dem Motto: All you can eat for one dollar! – Die Züge hielten immer nur für kurze Zeit! Wirtschaftlich ging es bergauf, aber der amerikanische Bürgerkrieg bewegte die Familie doch zur Rückkehr nach Deutschland. So wuchs Charles Garke in Blankenburg auf. Wie er zur sächsischen Armee kam, weiß ich nicht genau. Jedenfalls fand er sich als junger Mann in Dresden wieder, machte einer Tochter vom Rittergut Zuschendorf den Hof und führte sie schließlich als seine Frau heim.
Glückliche Zeiten begannen. Erst wurde eine Tochter geboren, dann ein Sohn. Der General war stolz auf seine Familie, erfolgreich in seinem Beruf und auch sein liebstes Hobby, das Klavierspielen, Singen und Komponieren, konnte er ausgiebig ausüben. 1913 kaufte er für sich und seine Familie als Familiensitz und Altersdomizil eine Villa vor den Toren Dresdens. Ja, so kamen wir zusammen. Else, die Ehefrau des Generals, war von Anfang an von mir begeistert: „Was für ein Treppenhaus!“ Es gab 6 großzügige Zimmer für die Familie, die Dienstboten hatten ihre Kammern im Dachgeschoss, die Küche war im Keller. Umgeben war die Villa von einem schönen Grundstück, auf dem man Gemüse anbauen konnte und Hühner hielt. Die noch unbebauten Nachbargrundstücke wurden dazugepachtet und ebenfalls bewirtschaftet.
Aber 1914 begann der erste Weltkrieg und der General musste an die Westfront, ebenso sein Sohn Kurt, damals gerade 22 Jahre alt. Schon in den ersten Kriegswochen fiel der Sohn in Frankreich und eine traurige Zeit begann. Else sorgte sich um ihren Mann, aber er kam heil zurück – quittierte den Dienst und lebte fortan als „Privatier“.
Seine große Leidenschaft gehörte der Musik, er bezeichnete sich selbst als Wagnerianer. Er spielte hervorragend Klavier, in meinem Salon im Erdgeschoss standen zwei Flügel: ein Blüthner und ein Bechstein. Ach, das war eine schöne Zeit. Hauskonzerte fanden statt und Proben für so genannte Kleinrentner-Konzerte, die der General an unterschiedlichen Orten aufführen ließ. Man konzertierte unter anderem in der Friedensburg, in  der Turnhalle der Niederlössnitzer Schule  und im Luthersaal der Kötzschenbrodaer  Kirche. Zehn Jahre lang währte diese  Konzerttätigkeit, von 1923 bis 1933, die  vielen Menschen in dieser Zeit große Freude bereitete, denn die Eintrittspreise waren niedrig und die Qualität der Musiker hoch. Als Sängerin wirkte häufig Frau Trude Gabriel mit, ebenso der Tenor  Dr. Otto Wolf und am Cello Konzertmeister Gmeindl.
1936 starb der General, seine Witwe war allein in dem großen Haus. Die Tochter Eva war inzwischen auch mit einem Offizier verheiratet und hatte fünf Kinder, die in den Jahren 1911 bis 1925 geboren wurden. Familienmitglieder gab es reichlich, das Geld war knapp, und so schien es sinnvoll, zusammenzurücken. Ein Anbau an meiner Nordseite wurde ge­plant und durchgeführt. Die Küche sollte nun nicht mehr im Keller sein, jede Etage bekam eine eigene Küche; von nun an lebte die Großfamilie mit wechselnder Besetzung in meinen Mauern. Da war immer viel Trubel, Enkelkinder wurden geboren. Und als die Frau General einmal mit  fünf Enkelkindern – fast alle gleich alt –  spazieren ging wurde sie gefragt, ob sie einen Kindergarten aufgemacht habe: „Ach nein, das sind alles meine Enkel!“
Und wieder kam ein Krieg, vernichtender und schrecklicher. Ich blieb verschont, die Stadt Dresden, die man von meinen Dachfenstern aus sehen kann, fiel in Schutt und Asche. Und dann kamen die Russen. Auch durch meine Straße zogen sie. Die Frau General aber stellte sich auf den Treppenabsatz und scheuchte sie mit deutlicher Geste davon. Komischerweise funktionierte das. Vielleicht, weil die Frau General Russisch sprach? Sie hatte nämlich in ihrer Jugend mit einer Tante eine längere Russlandreise unternommen. Die Familie war zum großen Teil nach Westen geflohen, und so entschied sich die Frau General Garke ebenfalls, das Land zu verlassen. Ihr Hab und Gut, die Möbel, die beiden Konzertflügel ihres Mannes hatte sie Stück für Stück als Beiladung zu ihren Kindern schicken lassen. So reiste sie mit relativ kleinem Gepäck, als sie 1947 das Haus abschloss und den Schlüssel einsteckte. Für sie wurde es eine Trennung für immer.
Einquartierungen füllten meine Räume von oben bis unten. Bis zu zehn verschiedene Familien wohnten unter meinem Dach. Die Wohnungsnot war groß. Die Bewohner wechselten, die Zahl wurde kleiner und mein Zustand verschlechterte sich – ich war ja nun auch in die Jahre gekommen. Meine Außenhaut wurde rissig, der Putz platzte ab, aber nur die notwendigsten Reparaturen wurden ausgeführt. Zwischenwände wurden eingezogen und schnitten mir mitten durchs Treppenhaus. Meinen schönen Holztüren wurden die Kassetten ausgesägt und durch gelbes Butzenscheibenglas ersetzt. Aber man ließ mir den Stuck, die schönen Holzfußböden, den Turm. Die Innentür meines Windfangs wurde entfernt und ich konnte hören, wie man darüber sprach, diese zu Brennholz zu zersägen. Dabei gehörte diese Tür zu meinen besonderen Schönheiten, auf die ich immer so stolz gewesen bin: Zweiflügelig, mit Glaseinsätzen und Schnitzereien. Glücklicherweise konnte ich mit ansehen, wie ein Nachbar sich dieser Tür erbarmte und sie in sein Haus holte. So schien sie jedenfalls ge­rettet.
Eigentümer waren immer noch die Nachkommen der Familie Garke. Enteignungsbestrebungen widersetzte sich besonders die eine Enkelin. Sie stellte Geld zur Verfügung, um eine drohende Überschuldung und damit Enteignung zu verhindern. Aber den allmählichen Verfall konnte sie so nicht aufhalten.
Und dann kam die Wende. Noch vier Mietparteien lebten unter meinem Dach. Im Dachgeschoss wohnte eine junge Frau mit zwei Kindern, die konnte nichts wegwerfen. Der Müll türmte sich in den Zimmern. Zwei Familien lebten jeweils im Erdgeschoss und im ersten Stock. Und eine ältere Dame hatte auch noch ein Zimmer zur Untermiete. Mein Zustand war modernen Wohnvorstellungen nicht mehr angemessen: Ofenheizung, Fäkaliengrube hinterm Haus, die Elektrik war unzulänglich. Im Jahr 1995 erwarb mich der Urenkel von Charles Garke aus der Gruppe seiner Miterben. Und  man mag es nicht glauben, der alte Schlüssel, den die Frau General 1947 mitgenommen hatte, der passte noch! Nun begann eine umfassende Renovierung. Monatelang wurde an mir gebohrt, gehämmert und die später eingezogenen Wände wurden wieder abgebrochen. Ich wurde eingerüstet, neu verputzt und gestrichen. Und dann wurde ich vermietet! Na ja, immerhin war ich jetzt wieder gut in Schuss.
2007 entschloss sich der Eigentümer, nun doch noch bei mir einzuziehen. So hat sich der Kreis geschlossen. Der Blüthner-Flügel steht wieder im Salon, die Tür des Windfangs ist von Nachbars Bodenkammer wieder an ihren angestammten Platz gekommen. Sogar einige Möbelstücke kommen mir bekannt vor!
Ach, und ich vergaß zu erwähnen: die Kaiserstrasse 6 gibt es schon lange nicht mehr. Namen vergehen – ich als Haus bleib bestehen.
Silke Engelke
Thomas-Mann-Str. 6

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