Einblicke – Ausblicke

»Erzähle mir um Himmels willen nicht, dass du dich bessern willst«, rief Lord Henry und tauchte seine weißen Finger in eine rote, mit Rosenwasser gefüllte Kupferschale. »Du bist schlechthin vollkommen. Bitte, ändere dich nicht.«

In Oscar Wildes Erzählung vom Bildnis des Dorian Gray spricht diese Worte der Zyniker zum Verzweifelten. Ändere dich nicht. Mache weiter wie bisher. Du siehst blendend aus. Du stehst gut da.

Der andere freilich hat ein Bild vor Augen, das in einem abgelegenen Zimmer seines Hauses hängt. Er will es verbergen. Er muss es verbergen. Und doch zieht es ihn unwiderstehlich immer wieder dorthin: zu seinem ungeschminkten Selbst.

Die äußeren, wahrnehmbaren Dinge sind Schein. Das Bild aber zeigt die Wahrheit. Und so schüttelt Dorian zum Ansinnen seines Freundes den Kopf und sagt: »Nein, Harry, ich habe zuviel Schändliches in meinem Leben getan. Jetzt soll das anders werden. Gestern habe ich mit einer guten Tat den Anfang gemacht.«

Sein Freund spottet auch hier und verreißt die guten Vorsätze. Aber die Wahrheit seines Bildes lässt Dorian nicht los. Ihr kann er nicht entfliehen – und will es auch nicht mehr.

Ganz so dramatisch sieht es in unseren abgelegenen Räumen wahrscheinlich nicht aus. Dennoch kann eine innere Bilanz hilfreich und wohltuend sein. Und dann nehmen wir uns für das neue Jahr vielleicht noch anderes vor, als eine Zigarette weniger zu rauchen.

Es kann freilich auch sein, dass unser Bild Züge aufweist, die ganz anders sind als die der Romanfigur Wildes. »Du bist schlechthin vollkommen.«, das wäre wohl des Guten zuviel. Aber »Du bist ganz o.k.« könnte ja auch ein Ergebnis der inneren Vernissage sein. Und unter Umständen übersehen wir diese Züge ebenso häufig, wie wir vor den unangenehmen Seiten die Augen verschließen.

Peter Sloterdijk, Professor für Philosophie und Ästhetik in Karlsruhe, wendet sich vehement gegen die anthropologische Annahme, der Mensch sei ein Wesen, das ausschließlich von Angst, Gier und Machtstreben bestimmt wäre. »Der vorgebliche Realismus flüstert … ein, der gesamte soziale Zusammenhang müsste sofort in Millionen autistischer Gier-Atome zerfallen, sobald man den Bürgern mehr Freiheit … ließe.« Das Wortfeld Großzügigkeit, das Geben-Können und Geben-Wollen, ist für ihn in heutiger Bestimmung des Menschseins weitgehend ausgeblendet.

Damit hat er so Unrecht nicht. Eine innere Bilanz könnte dann auch einmal von der Absicht geleitet sein, die eigenen positiven Seiten wahrzunehmen und zu würdigen. Und das Vorhaben für das neue Jahr wäre vielleicht, sich selbst mehr zu achten.

Mit herzlichen Segenswünschen für das neue Jahr

Ihre Pfarrerin Antje Pech

[V&R 1/2011, S. 4]

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