Man müsste wieder einmal… ein Buch zur Hand nehmen!

An einem der langen, dunklen Nachmittage kurz vor Weihnachten tat ich dies. Es war ein Bilderbuch, genauer gesagt ein Text- und Bildband, der u. a. von Pyramiden, Reifentieren, geschnitzten Bergmännern und Lichterengeln handelt, also zu einer weihnachtlichen Stimmung überleiten sollte. Außer einer Reihe von Krimis und ein paar Lesebüchern habe ich fast nur Bildbände, zum Teil mit wissenschaftlichem oder künstlerischem Anspruch. Ein solches war das Buch, das ich in der Hand hielt: »Holz – Form und Gestalt« von Helmut Flade, VEB Verlag der Kunst Dresden 1976. Fast hatte ich vergessen, was es damals auch für tolle Bücher gab, dieses ist ganz sicher so eins!

Cover (Repro)

Ich will jetzt aber keine Werbung dafür betreiben, wenngleich es seine inhaltliche und gestalterische Gültigkeit auch nach über 30 Jahren behalten hat und ich es nach wie vor sehr gut finde. Nein, das Buch hat seine ganz eigene Geschichte, sozusagen die Geschichte hinter dem Buch. An diese wurde ich durch einen unscheinbaren Stempelaufdruck auf der letzten Innenseite erinnert: 10 P / 90 K.

Als ich vom Erscheinen des Buches hörte und auf die Suche ging, konnte ich es weder in Radebeul noch in Dresden in den Regalen der einschlägigen Läden finden. Es hatte eine geringe Auflage und war, wie wir damals sagten, »Bückware«. Das heißt, es stand nicht im Regal, sondern lag für den Kunden unsichtbar unter der Ladentafel, und man musste die Verkäuferin schon sehr gut kennen, damit sie sich für einen danach bückte. In dem Fall hatte ich aber keine Chance!

Nun ergab es sich, dass ich im Jahr 1979 eine Touristenreise nach Leningrad (inzwischen wieder St. Petersburg) unternahm. Zunächst hatte ich Gelegenheit etwas sauer zu sein, weil mir der sowjetische Zoll bei der Einreise ein »Magazin« (war auch »Bückware«) aus der Reisetasche entnahm und wegen Pornografieverdachts beschlagnahmte. Die Genossen wollten sich wohl selbst an den Aktfotos berauschen, wer weiß das schon. Das 7-Tage-Programm in der schönen Stadt konnte mich aber bald erfreuen, so dass der Verlust nicht mehr schmerzte. Ja, ich glaube, der geschichtsträchtige Kreuzer »Aurora« war auch im Programm, wie Winterpalais und Isaakkathedrale. Am vorletzten Tag schaute ich, was ich für das übrige Geld kaufen und mit nach Hause nehmen könnte. So kam ich in einen Laden, der »Internationales Buch« hieß, und sah mich da um. Meine Überraschung war groß, als ich in den Auslagen das erwähnte Holzbuch von Flade sah. Der Preis, 10 Rubel und 90 Kopeken, war sogar etwas günstiger als der umgerechnete deutsche Preis, also griff ich zu. Während der Busfahrt zum Flughafen begannen mich dann Zweifel zu plagen. Durfte ich das Buch überhaupt ausführen und, wenn ja, musste ich dafür Zoll zahlen? In der Reisegruppe wusste es auch keiner, und so ließ ich es darauf ankommen. Ich hatte Glück, der Genosse vom Einreise-Zoll hatte vielleicht eine andere Schicht. Seitdem ziert das schöne Buch mein Regal und wird gelegentlich auch mal in die Hand genommen. Ja, so waren die Zeiten damals!

Und jetzt, wo ich mich beim Betrachten einiger Bilder in eine vorweihnachtliche Stimmung bringen wollte, kommt die alte Geschichte wieder an die Oberfläche. Hinter manch anderem Buch in meinem Bestand steckt sicherlich auch eine Geschichte, man muss es nur erst mal aus dem Regal nehmen.

Dietrich Lohse

[V&R 1/2011, S. 7f.]

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