anlässlich der Verleihung des Kunstpreises der Großen Kreisstadt Radebeul an Gottfried Reinhardt und Helmut Raeder am 9. Oktober 2011 auf Schloss Wackerbarth
von Prof. Helmuth Heinze
In Vorfreude auf diesen Tag der Verleihung des Kunstpreises der Großen Kreisstadt Radebeul an Gottfried Reinhardt habe ich mehrere Reden entworfen, um das Werk und Wirken des Preisträgers zu würdigen, habe sie dann alle verworfen. Es war mir alles zu aufgezählt, zu trocken, zu richtig – ja nichts zu vergessen – an alles zu denken. Zu lang sollte die Rede auch nicht werden.
Wir haben uns aber auch am Ende des vergangenen Jahres über die große Wertschätzung und Anerkennung, die Gottfried Reinhardt bei den Künstlern in Radebeul gefunden hat, sehr gefreut. Sie alle haben sich sehr gut erinnert, dass Gottfried Reinhardt über Jahrzehnte in Radebeuler Ateliers, in Privathäusern, in Gärten und Wohnungen, in Kirchgemeinden, im Schloss Hoflößnitz und in der Stadtgalerie seine Puppentheaterstücke aufgeführt hat. Er hat durch seine Aufführungen in den Ateliers der Künstler, bei Ausstellungseröffnungen, bei Geburtstagen und Feiern zur Kultur der Stadt beigetragen.
An drei Stationen – eigentlich sind es drei Jahreszahlen – möchte ich versuchen, das Werk und Wirken des Preisträgers zu würdigen.
Die erste Station – 1972: Am 30.Dezember 1972 hatte Gottfried Reinhardts Puppentheater in der Schinkelwache am Theaterplatz in Dresden Premiere. Publikum waren seine Freunde aus dem Architekturstudium. Gottfried Reinhardt hatte von 1953 bis 1961 an der TU Dresden Architektur studiert, aber es zog ihn nach dem Studium zum Theater und zur Malerei.
Obwohl er auch „Menschentheater“ – wie er es nannte – besonders mit dem Choreografen Manfred Schnelle in Rostock entworfen und ausgeführt hat, ist er durch sein eigenes Puppentheater und seinen eigenen Stücken weithin bekannt geworden. Seine Freunde aus dem Studium haben ihn nach der Premiere in der Schinkelwache seiner ersten beiden Stücke „Die Hochzeit im Spreewald“ und „Don Giovanni“ ermutigt, weiterhin zu spielen. Neben Peter Albert und Dieter Schölzel waren Karl-Heinz Georgi und Manfred Wagner bei der denkwürdigen Premiere mit dabei. Der Erfolg war groß: „Wir haben es weiter gesagt“, so erzählte Dieter Schölzel, „und im Lauf der Zeit sind es Hunderte, wenn nicht Tausende geworden, die Dein Spiel erlebt haben, zu denen Du mit deinem Theater – anfangs auf dem Buckel tragend – gezogen bist …“. Bereits bei dieser ersten Premiere hatte Gottfried Reinhardt sein zusammenlegbares Wandertheater aus Stäben und Stoffen. Es geht leicht aufzubauen, leicht wieder abzubauen und wieder fortzutragen.
Die Stücke hat er selbst geschrieben, die Puppen selbst gestaltet, die Bilder selbst gemalt, seine Stücke auch selbst inszeniert und alle Puppen geführt und gesprochen. Er spielte auf private Einladung in jeder Wohnung, in jedem Raum mit der Mindesthöhe 2,65 m. Er verlangte keinen Eintritt, kein Honorar, meist ging der Hut herum. Sein Spiel mit den Stücken, seinen Puppen, dem leicht gebauten Theater war in Farbe und Form ein Gesamtkunstwerk.
Er hat mit einfachen Mitteln große Wirkungen erzielt. Die Tiefe seiner Gedanken und die Leichtigkeit des Spiels machten sein Puppentheater besonders und einmalig. In den frühen griechischen Stücken haben wir diese heitere Dramatik, die nur das Theater mit Puppen möglich macht, begeistert erlebt.
Ein Beispiel: der Beginn des „König Ödipus“
Ödipus: | „Ich habe einen rechten und einen linken geschwollenen Fuß und heiße deshalb Ödipus – der geschwollene Fuß. Ich gebe euch bekannt, dass nach mir den Ödipus-Komplex benannt; für solche, die den Vater töten oder hassen, um sich intensiv mit Mutti befassen. Weil man mir dies prophezeite, gehe ich von zu Hause in das Weite. Will Vater und Mutter nie mehr seh’n, um mich an ihnen zu vergeh’n. Heiter bin ich, guter Dinge, zieh‘ mich hinkend aus des Schicksals Schlinge.“ |
Kasper: | „Ist auch das Wetter nicht heiter, die Sonne scheint über den Wolken weiter.“ |
Er hat uns die Antike wieder nahe gebracht.
Die zweite Station: 2008: Am 13. Juni fand in der Stadtgalerie in Radebeul-Altkötzschenbroda die Buchpremiere von Gottfried Reinhardts Buch „Puppentheaterstücke“ statt. Der NOTschriftenverlag mit seinem Leiter Jens Kuhbandner und der Herausgeber Uwe Arnold hatten sich zu einer Gesamtausgabe aller 16 geschriebenen und gespielten Stücke entschlossen. „Ein Buch, ein wunderschönes Buch ist erschienen“ schrieb Undine Materni in der Sächsischen Zeitung „das Puppentheaterstücke in drei Abteilungen versammelt: die Antike, das Theater, die freien Erfindungen, ergänzt durch Faksimiles von Zeichnungen, Theaterzetteln und Notizen. Trotz der fast 500 Seiten liegt es leicht in der Hand.“
Paul Kaiser nannte ihn 1997 in einem Aufsatz im Katalog der Ausstellung „ Bohème und Diktatur in der DDR“ in Berlin „… eine lebende Legende in der ostdeutschen Subkultur.“ Seine Stücke handeln von Macht und Ohnmacht, von Maß und Anmaßung, von Freiheit und Unfreiheit und waren eine Form des subversiven Widerstandes in der DDR.
Vielleicht noch eine Anmerkung: Vom Dezember 1972 bis Juni 2008, das sind knapp 35 Jahre, hatte Gottfried Reinhardt fast über 2000 Auftritte. Bei jedem Auftritt hatte er nicht nur das Stück zu spielen, die Puppen zu führen, die Rollen zu sprechen, sondern auch das Theater zuerst aufzubauen, dann wieder abzubauen und wieder in zu verpacken. Eine große körperliche und geistige Leistung. Er hatte kein festes Haus, er war überall zu Hause, wo man seine Stücke und sein Spiel liebte.
Die dritte Station – 1987: Gottfried Reinhardt nahm zwei kleine verwilderte Katzen mit aus dem Keller der Russisch-Orthodoxen Kirche in Dresden. Die beiden kleinen Katzen nannte er „Iphigenie“ und „Medea“. Es kamen im Laufe der Jahre noch viele Katzen in sein altes Bauernhaus. Der „Iphigenie“ hat er sogar das gleichnamige Puppentheaterstück gewidmet. Seit dieser Zeit sind „Katzenportraits auf alten Brettern“ entstanden. Carla und Friedrich-Wilhelm Junge gaben Carsten Nüssler 2003 ein schmales Bändchen über diese Katzenporträts mit dem Titel „Medea“ und einem Text von Gottfried Reinhardt heraus.
Einige Worte zum Maler und Grafiker Gottfried Reinhardt:
Während seines Architekturstudiums hatte er bei Prof. Nerlich als Wahlfach Technik des Holzschnitts belegt und hatte Unterricht im Malen und Zeichnen bei Otto Westpfahl genommen, der Schüler von Carl Bantzer war und die „Frei-Luft-Malerei“ lehrte. Im Gebergrund bei Goppeln malten sie im Freien. Gottfried Reinhardt hat viel an der Luft, im Freien gemalt und gezeichnet, die Holzschnitte sind dann im Haus entstanden. Seine Landschaften sind offen und locker, ohne feste Konturen. Auch seine Holzschnitte sind fast fließend, ohne flächenhafte Festigkeit. Anders bei seinen Katzenporträts auf alten Brettern. Sie haben Begrenzung und Umriss.
„Mitunter ist eine gewisse Ähnlichkeit mit Ikonen nicht zu vermeiden“, schrieb er in seinem Text. „Manche Katzen auf den Kuchenbrettern leben schon nicht mehr. Ihr Bild soll sie mir wieder nahe bringen.“ Ikonen, so hat er mir erklärt, blicken zu uns, wie aus einer höheren Welt.“
Vielleicht muss ich hier erklären, dass Gottfried Reinhardt Protodiakon der Russisch-Orthodoxen Kirche in Dresden ist und seit seinem Eintritt 1972 in diese Kirche jeden Sonnabend und Sonntag sowie an den Feiertagen des Kirchenjahres gedient hat, zuletzt meist im Ornat gelesen und zelebriert.
Die Tierliebe, die Menschenliebe, die Liebe zur Landschaft, die Weisheit und die Religion hat er in besonderer Weise in seine Kunst mit einbezogen, sei es nun in seinem Puppentheater, in seiner Malerei, in seinen Holzschnitten und in seinen Katzenporträts. Er weiß von den Zusammenhängen frühchristlicher Bildwerke und antiker Kunst.
Apollo, der Gott der Künste und Wissenschaften, olympischer Gott der Weissagungen spricht im Stück „Iphigenie“ von Gottfried Reinhardt:
„Ich mag die Menschen nicht schuldig sprechen,
ich kenne sie und achte ihre Schwächen.
Schwächen sind ehrlich
Stärken oft gefährlich.“
Gottfried Reinhardt hat oft im Gespräch geäußert, sein wichtigster Satz ist aus der „Antigone“ von Sophokles:
„Nicht mit zu hassen, mit zu lieben bin ich da.“
Laudatio für Helmut Raeder
von Heiki Ikkola
Ihr naht Euch wieder, wankende Gestalten,
Die übers Jahr im trüben Nirgendwo geweilt!
Willkommen, Freaks, Poetenpack, ihr Durchgeknallten,
Die Ihr mit schönem Wahnsinn jeden Kummer heilt!
Die Zelte stehn, die Buden sind gezimmert.
Es riecht nach Glückshormonen, Rindenmulch und Schweiß.
Die Bühne knarkst, die Violine wimmert,
Der Prinzipal hält lachend sich den Steiß.
Ein jedes Nachtgewächs kann hier gedeihen.
Ein jeder staunt und feiert, was er kann.
Und weißbehemdet winden sich die Reihen:
Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan!
Hinaus ins Weite unsrer drastisch schönen Eingeweide!
Es rast die Lust durch Herz, Blut, Nerven und Verstand.
Wir tanzen auf des Messers Schneide
Bis an des Lichtermeeres zwielichtigen Rand.
Ich gratuliere der Großen Kreisstadt Radebeul zu der Entscheidung, ihren Kunstpreis 2011 dem Künstler und Menschen Helmut Raeder zu verleihen.
Wenn es zu beschreiben gilt, was Helmut Raeder von Jahr zu Jahr immer wieder neu auf die Beine stellt, was er mit zahllosen Mitstreitern zimmert, zaubert, zelebriert, dann werden Zeitungsredakteure und Programmheftschreiber zu romantischen Dichtern und verschlossene Griesgrame zu freundlichen Fantasten:
Straßenzirkus-Direktor, Impresario, Zeremonienmeister, Festivalmacher, schelmischer Frühling – all das ist Helmut Raeder. Jazz-Veranstaltungen in Senftenberg, Weinfeste, Kinderjahrmarkt und das erste Straßentheaterfestival der DDR in Meißen, Spieltour Dresden, Zirkus Luft, Feste im Eselnest, Walpurgisnacht, Straßenfasching, natürlich die Radebeuler Feste: das Karl-May-Fest, das Herbst- und Weinfest, Lichterglanz und Budenzauber, und nicht zu vergessen: der Scheune-Schaubuden-Sommer in Dresden – all das und viel mehr ist Helmut Raeder. Er würde sich sicher dagegen verwahren, all diese Projekte und Feste nur als seine Kreationen zu bezeichnen, was wären sie schließlich ohne all die Vertrauten und Wegbegleiter, Künstler, Musiker, Wolkenschieber? Aber mal ehrlich: was wären Dresden und Radebeul ohne Helmut Raeder?
Seine Kunst ist die große Kunst des Feste-Feierns, vielleicht eine völlig verkannte Kunst. Wie ein Maler Farben auf die Leinwand bringt, ein Regisseur Visionen in Szene setzt und das Bühnengeschehen arrangiert, so versteht es Helmut Raeder, Menschen verschiedenster Kulturen, Gesellschaftsschichten und Berufe zu vereinen, um seine großen und kleinen Kunstfeste lebendig werden zu lassen. Da vereinen sich Visionen, die seit Jahren in seinem Herzen wachsen, mit überraschenden Einfällen zu Augenblicken gelebter Kreativität. Helmut Raeder bringt Künstler zusammen, die sich vielleicht nie getroffen hätten und braut so den Sud für einzigartige Mischungen großen sinnlichen Kunstgenusses.
Er ist ein Mann ohne Berührungsängste, seine Bodenständigkeit ist ebenso beneidenswert wie seine himmelfliegenden Ideen. Zwischen Hochkultur und Volksfest zieht er keine Grenzen, eine Kunst nur für Eliten, das wäre ihm fremd und weiß um den prickelnden Zündstoff, den er da legt.
Gilt es, Musiker zu finden, die die Grenzen des Gewohnten überschreiten, die mit einem Tross von Künstlern durch die Stadt ziehen oder endlos musizieren, um ein Fest im Rausch der Nacht zu zertanzen, dann findet er sie oft in der Nähe seiner Wohnung am Altmarkt: Straßenmusiker aus aller Herren Länder, oft sind es Zigeuner, zu denen Helmut ein ganz besonderes Verhältnis hegt.
Faszinierend, fremd sind sie, nicht immer zu verstehen.
Helmuts Feste sind oft geprägt von diesem besonderen Verhältnis, sind wie ein Kusturica-Film, der ohne Kamera und Leinwand auskommt, weil wir mittendrin sind! Helmut kommuniziert mit Künstlern aus aller Welt, auch wenn er keine Fremdsprache spricht. Wie macht er das? – Das erstaunt mich immer wieder. Er versteht und wird verstanden.Hat er im Vorfeld des Karl-May-Festes mit dem Gast einen nordamerikanischen Indianerstammes einige Stunden in der Schwitzhütte verbracht, ist die Verbindung besiegelt und es bedarf nur noch weniger Worte. Eine weitere erstaunliche Fähigkeit Helmuts ist es, zu wissen, wo braucht es Entscheidungen, Rahmenbedingungen, wo muss radikal und ungewöhnlich aufwändig vorbereitet werden? Und wann ist es Zeit, sich zurück zu ziehen und den Dingen ihren Lauf zu lassen, damit sie sich entfalten.
Ich habe viel von ihm gelernt, die Arbeit mit ihm war für mich stets beglückend und im wörtlichen Sinn ein Lebenselixier.
Und zum Schluss:
Ein Mann sitzt unterhalb von Altkötzschenbroda auf dem Deich, während im Zelt alles ausgelassen tanzt und das gelungene Fest feiert, sitzt dieser Mann mit Hut still, schweigend einfach da, keiner vermag zu sagen, was er denkt. Er blickt auf die verlassene Wiese, die letzten Reste schwelenden Holzes, die Feuerwehrleute drehen eine letzte Runde und bemerken den Mann gar nicht – es ist Helmut Raeder – so wie in nur wenige kennen. Ein Künstler nach getaner Arbeit. Irgendwie leer und doch angefüllt. Fragend, zufrieden, nachdenklich, einfach nur schauend – wer vermag das zu sagen?
Lieber Helmut, du bist kein Künstler im Elfenbeinturm.
Dein Turm ist vielleicht ein Hochsitz aus rostigen Gerüststangen und Treibholz, auf dem du sitzt, wenn eines deiner Feste in vollem Gange ist, freust dich an dem Treiben und lachst mit deinem unverkennbar donnerndem Lachen – ein Dionysos an der Elbe, den nächsten Streich schon im Kopf.
Im Hintergrund singt jemand das Lied vom Mädchen mit den schwarzen Augen …