Ohne viel Herz, aber mit umso mehr Verstand

Zur Premiere von „Die drei Schwestern“ am 15./16. Oktober in den Landesbühnen

Drei Schwestern

Zu einem ungewöhnlich frühen Zeitpunkt in der Saison präsentierte das Schauspiel der Landesbühnen seine erste Inszenierung für den Großen Saal, der allerdings am zweiten Premierenabend beschämend dünn besucht war. Warum eigentlich? Tschechow ist einer der Dramatiker der Moderne, und seine Stücke, mögen es nun Die Möwe oder auch Der Kirschgarten oder eben wie jetzt in Radebeul Die drei Schwestern sein, thematisieren die Unzulänglichkeiten der menschlichen Existenz, gemessen an dem, was die Figuren an Träumen, Hoffnungen und Wünschen mit sich herumtragen. Auch 110 Jahre nach der Uraufführung birgt Die drei Schwestern also genug an dramatischer (Aussage-)Kraft, denn die Lebensleere der russischen Provinz, wie sie Olga (Julia Vincze), Mascha (Sandra Maria Huimann) und Irina (Dörte Dreger) schmerzlich spüren, übersetzt sich in die gefühlte Bedeutungs- und Perspektivlosigkeit der namenlosen Millionen im Europa des Jahres 2011, die der in jungen Jahren noch erträumten Lebensfülle nunmehr nur kraftlos nachdämmern, weil sie den Absprung aus der geistigen Einöde nicht geschafft haben. Der von Thomas Brasch in neuer Übersetzung vorgelegte Text bedient diese Suggestionen und wird um einige Assoziationen zur aktuellen politischen Situation angereichert. Insoweit der Inszenierung (Arne Retzlaff) also dieser rationale und sehr in das Jetzt hineinzielende Ansatz unterstellt werden kann, wird das Bühnenbild (Cornelia Just) auf mehrfache Weise plausibel: Der Bühnenvordergrund ist dauerhaft bedeckt mit welkem Laub, selbst im Mai, in dem das Stück einsetzt. Wer lebt wie die Figuren in Tschechows Stück, der lebt nur unter dem Vorbehalt des jederzeit möglichen Endes. Dazu gehört Armeearzt Tschebutykin (Jost Ingolf Kittel), der sich mit 60 Jahren um sein Leben trinkt und der die Berichte seiner belanglosen Lokalzeitung mit dem wirklichen Leben verwechselt. Dazu gehört Baron Tusenbach (Marc Schützenhofer spielt diesen sympathisch reflektierenden Charakter mit viel Feingefühl aus), dessen Liebe zu Irina unerwidert bleibt und der vom Nebenbuhler (David Müller in der Rolle des Soljony) im Duell erschossen wird. Dazu gehört schließlich Werschinin (Mario Grünewald verleiht der Figur schneidigen Pathos), dessen Frau sich mehrfach umzubringen versucht und der deshalb der attraktiven Mascha verfällt, ohne sie allerdings gewinnen zu können. Im Bühnenhintergrund grenzt sich ein überdimensionales, zwölffach abgeteiltes Regal ab, das den Figuren als individueller Rückzugsort dient. Jede(r) ist für sich allein in seinem kargen Geviert, vereinsamt in Gemeinschaft, weil man zu oft aneinander missversteht und mit sich selbst schon genug zu tun hat. Prototypisch dafür ist Lehrer Kulygin (Olaf Hörbe), Maschas Ehemann, der sich eine große Liebe zu seiner Frau vorgaukelt, weil es den Konventionen nach so sein muss. Der Rolle von Andrej (Tom Hantschel), dem Bruder der drei Schwestern, ist das größte Missverständnis aller Figuren eingeschrieben. Angetreten, um seiner kultivierten Erziehung mit einer Professur in Moskau – sowohl Geburts- als auch Sehnsuchtsort der vier Geschwister – die Krone aufzusetzen, endet er wegen Spielsucht schließlich hoch verschuldet als vertrottelter Angestellter der Landverwaltung, dessen Verantwortungsgefühl abgestumpft ist und an der Ferapont, Bote der Landverwaltung (Michael Heuser), scheitert. Bezeichnenderweise steht am Ende die flotte Lokalschönheit Natalja (Wiebke Adam-Schwarz) im Kreise der Zugezogenen und Soldaten als einzige Figur als Gewinnerin da, indem sie als Andrejs Ehefrau das Haus der Geschwister übernimmt und ein eisernes Regime führt. Das bekommt vor allem die Kinderfrau und Haushaltshilfe Anfissa (Anke Teickner) zu spüren, deren Daseinsberechtigung von Irina gegenüber Natalja mit Hinweis auf deren Menschsein verteidigt werden muss.

Vor der Folie der künstlerischen Gesamtkonzeption lässt sich ein großer Holzrahmen, der von Anfang bis Ende in unterschiedlicher Weise auf der Bühne platziert ist, als Ordnungskraft deuten, die den Figuren und den Zuschauern Sinnangebote macht. Wer lebt denn eigentlich „im Rahmen“ seiner geistigen und körperlichen Möglichkeiten, und wer ist längst „aus dem Rahmen gefallen“? Obwohl die Inszenierung also durch sinnstiftende Bühnendetails überzeugt, konnte sich meinem Eindruck nach die subtile, im Tschechowschen Text meisterhaft ausgeführte Desillusionierung der Figuren im Spiel selbst nicht überzeugend und vollständig entfalten. Diese Interpretation bediente meinen Intellekt, aber erreichte nicht mein Herz. Daran ändert auch eine traurigschöne Pierrot-Szene zum Ende des 2. Aktes nichts, in der Irina als Kontrapunkt zum flachen Karnevalsamüsement die Sehnsucht nach einem sinnerfüllten Leben tanzt.

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