Eine literarische Reise durch die Opernprovinz und Erlebnisse vor der Haustür
Sebastian Hennig
In einem Zeitraum von zwölf Jahren praktizierte der Publizist Ralph Bollmann einen sanften Operntourismus. Am Anfang stand 1997 die Überrumpelung durch eine „Fidelio“-Aufführung im mecklenburgischen Neustrelitz. Darauf folgte eine ausgiebige Suche nach der verlorenen Kunst in den Falten von Kleinstadt und Kleinstaaterei. Die Deutschlandkarte im Vorsatz des Buches verzeichnet alle Standorte einschließlich der sieben inzwischen geschlossenen Musiktheater. Das ergibt schon numerisch eine beachtliche Bilanz: „Rechnet man nur Theater mit festem Ensemble und ganzjährigem Spielbetrieb, besitzt Deutschland ungefähr so viele Opernhäuser wie der gesamte Rest der Welt.“ Der Autor wird immer wieder zum Anwalt der Handelnden seines Buches: „Ein bisschen viel Theaternebel vielleicht, aber ich finde, große Effekte dürfen sein auf der Opernbühne.“ „Aber was ist an gut gemachtem Handwerk schlecht?“ Einmal läuft ihm der Kritiker im Foyer vor die Füße. Die Lektüre von dessen „Opernwelt“-Rezension lässt ihn dann fragen: „…ob ich überhaupt in derselben Vorstellung war. … Was, wenn das Naive zu der Oper sogar passt? Auch ich finde es drollig, wie sich die Meininger Tosca-Sängerin mit ihrem weißen Nerzmäntelchen durch die Aufführung pummelt. Aber ist das nicht gerade die Geschichte? Wie dieses unschuldige Mädchen seinen Liebsten aus Ahnungslosigkeit ans Messer liefert?“ Das Lebensblut der unsterblichen Werke bindet Ensemble und Publikum in einen Kreislauf. Bollmann schildert viele Beispiele gelungener Kunst-Transfusion in Mainz, Ulm, Freiberg und Saarbrücken. Das es daneben auch einige Missgriffe gibt, kann bei einer lebendigen Sache nicht anders sein. Aber in der öffentlichen Wahrnehmung ist das Verhältnis verkehrt: „Was aus der weltweit reichsten Opernlandschaft am lautesten nach außen dringt, sind Klagerufe. Zu dem Bild, das Musiktheater sei ein sterbendes Genre, haben die Theaterleute auf diese Weise selbst beigetragen.“ An den größeren Häusern werden teure Stars eingekauft. An den kleineren Orten dagegen ist die einstige Hochkultur zur spannendsten Subkultur der Republik geworden. Das gefühlsechte Kunstleben findet dort statt, wo das Werk sich im gegenwärtigen Nu auf der Bühne und im Orchestergraben entfaltet und das Publikum ergreift. So wie bei einer Tannhäuser-Aufführung in Eisenach unweit des Wagnerschen Genius loci: „Was ich da höre, klingt so ganz anders als die Aufnahme, die wir unterwegs im Auto hörten. Dünn, kratzig, ungehobelt, weit entfernt vom seidenmatten Glanz der Berliner Staatskapelle. Schon nach wenigen Minuten denke ich: auch spannender. Schlanker, transparenter, kontrastreicher als der füllige Wagnerklang der Großorchester ….“ Der Rezensent darf ein vergleichbares Erweckungserlebnis aus jüngster Zeit anfügen: Über die so unbeholfen wie erfolgreich um die Gunst eines völlig kritiklosen Publikums werbenden Operninszenierungen der Landesbühnen Sachsen haben wir uns schon als Jugendliche im Anrecht „Theater für Dich“ lustig gemacht. Im Vergleich mit dem nahen Dresden wirkte das einfach nur peinlich. Die Erfahrungsberichte älterer Opernfreunde über die glanzvolle Epoche der Landesoper in den sechziger Jahren waren sagenhafte Legenden. Nun aber ist durch Therese Schmidt eine Auferstehung des musikdramatischen Lazarus Landesbühnen geglückt. Ihr „Eugen Onegin“ greift souverän auf die Möglichkeiten des Hauses zu, einschließlich des Balletts, ohne die hier sonst übliche Überfrachtung und Überzeichnung. Selbst der problematische Guido Hackhausen, der als Prinz in Dvoraks „Rusalka“ vor Jahren eher für unfreiwillige Komik sorgte gibt einen durchaus überzeugenden Graf Lenski. Die Hauptpartien sind sowohl sängerisch als auch darstellerisch ergreifend und ohne Misstöne gestaltet. Es gibt nichts Schöneres als sich eine negative Voreingenommenheit zerstreuen zu lassen. Vielleicht führt die gegenwärtige Angstblüte das Theater zu seinen historischen Flor zurück. Der neue Intendant hat in seiner Freiberger Zeit Verdienste um das dortige Musiktheater erworben, die nun ebenfalls Radebeul zugute kommen können.Sebastian Hennig
Ralph Bollmann, Walküre in Detmold, Eine Entdeckungsreise durch die deutsche Provinz, Klett-Cotta, Stuttgart 2011