Streifzüge durch Europas Mitte

Essayband des Radebeuler Autors Jörg Bernig

Ein hoher Anteil der Bevölkerung des Freistaates Sachsen verfügt über Wurzeln, die nach Schlesien, Böhmen, Mähren und weiter in den Osten Mitteleuropas reichen. Während in der alten BRD die Vertriebenen bei Parteipolitikern ihre Interessenvertreter fanden, blieb ihre Existenz hierzulande bis 1989 ein weitgehend verschwiegenes Kapitel. Die hypnotischen Romanhandlungen von Reinhard Jirgl, dem Büchnerpreisträger von 2009, wurden der Erwartung gerecht, das nach dem aufgezwungenen Schweigen eine späte, leisere aber auch eindringlichere Behandlung des Themas einsetzte. Es ist ebenso frivol, sich der Begegnung mit der eigenen Herkunft nur als „ausländischer Tourist“ zu stellen, wie es unhöflich ist, durch Revanche-Forderungen das unselige Zerwürfnis ins nächste Jahrhundert zu tragen. Es geht hier nicht nur um Verluste und Verletzungen. Es ist ein Reichtum an Gesittung zu heben und herzzerreißend schönen Landschaften ist zu begegnen. Ein anderer Schriftsteller, dessen Werk von der Hintergrundstrahlung dieser untergegangenen Zivilisation beherrscht wird, ist der 1964 in Wurzen geborene Jörg Bernig. Vergangenen Herbst erhielt er den Eichendorff-Preis, der seit 1956 in Wangen im Allgäu an Autoren mit schlesischen Wurzeln vergeben wird. Ungefähr zeitgleich erschien im Dresdner Thelem Verlag der Band „Der Gablonzer Glasknopf. Essays aus Mitteleuropa“.

Bernig: "Der Gablonzer Glasknopf"

Vom habsburgischen Reich, das bis 1918 an das Königreich Sachsen grenzte, schreibt er in diesem Buch: „Kakanien war vielleicht doch nicht das schlechteste aller Gebilde. Ein ruhiger und für die gegenwärtigen Vorhaben fruchtbringender Blick auf die untergegangenen Vielvölkergebilde in Europa, der sich nicht mit der Verklärung dieses oder jenes Monarchen oder der Verteufelung von Völkergefängnissen zufrieden gibt, könnte uns ein wenig Aufschluss geben über unser Woher und unser Wohin“. Etwas weiter geht Bernig noch, wenn er den „…mittlerweile seliggesprochenen Kaiser Karl I.“ beschreibt, als den „ – sagen wir lieber einmal vorerst – letzten österreichischen Kaiser…“ In Anbetracht der Verdienste des unlängst verstorbenen Erzherzogs Otto von Habsburg (dem Gemahl der Regina von Sachsen-Meiningen) für ein friedliches Europa kann man diesen „Gefühls-Monarchismus“ eigentlich nur teilen. Ein anderer Gewährsmann von Bernig, der österreichische Schriftsteller Peter Handke schrieb einmal: „In einem Reich zu sein, heißt, die täglichen Erscheinungen geschliffen sehen zu Kristallen.“ Und gewiss beinhaltet das Leben in einem heterogenen Reich eine friedlichere und tragfähigere Vision vom Zusammenleben als Präsident Wilsons Idee von der „Selbstbestimmung der Völker“. Die Tatsache, dass die tschechische Landkarte noch heute von einer Menge Wilsonovás durchzogen ist, veranlasst Bernig zu der Bemerkung: „Wilson hat damit letztlich den Weg ins Inhumane gewiesen, weil dieses „Recht“ in erster Linie nicht für ein Volk, sondern gegen andere gerichtet ist.“ Er erkennt hier eine Linie, die bis zu den anhaltenden und perfide angezüchteten Konflikten auf dem Balkan führt: „Um meinen Kindern die Begriffe ethnische Säuberung und politische Säuberung erklären zu können, werde ich nicht in fremde Gegenden und unbekannte Kulturen ausweichen müssen.“

Nebenbei bemerkt, in Jörg Bernigs letztem Romanwerk „Weder Ebbe noch Flut“, charakterisiert er seinen Wohnort Radebeul mit folgenden Worten: „…Elbnest unter sächsischen Weinbergen und keine Stunde von Böhmen, von Schlesien entfernt, so abgelegen, so randlägerig und aus der Welt.“

Es liegt auf der Hand, dass ohne eine wirklich lebendige Beziehung zu Prag und Breslau Dresden nie wieder die Bedeutung erlangen wird, die es vor gut hundert Jahren besaß. Die Befangenheit, die diesen natürlichen Prozess verzögern aber nicht verhindern kann, schildert der Autor im titelgebenden Essay des Buches. An anderer Stelle erwähnt er die Skepsis der Sachsen gegenüber der EU-Osterweiterung. Und seine eigene Position in dieser Lage beschreibt er so: „Die Künstler sind gefragt, wenn es um Verinnerlichungen fremder Erfahrungen geht…. Ich muss mich nicht selbst verbrennen, um zu wissen, dass das schmerzt.“ Wenn Bernig nicht gerade zu sehr in jenen Prediger-Ton verfällt, der nicht im Geringsten damit zu tun haben könnte, dass einige Texte als Rundfunkbeiträgen entstanden sind, dann gelingt es ihm in seinen Aufsätzen ein schwieriges, vielschichtiges Thema in eleganter und kurzweiliger Prosa darzustellen. Besonders fesselnd wird es immer dann, wenn er seine Reflexionen an eigene Familienüberlieferungen und Erlebnisse knüpft. So ist auch ein Mundartgedicht in der Überlieferung seines Großvaters wiedergegeben. Die literarische Form des Essays blüht also auch in Deutschland, wo sie kaum je die verdiente Wertschätzung erfuhr, wie beispielsweise in Frankreich, wo ein Schriftsteller allein für diese Fertigkeit einen stabilen Autoren-Ruhm begründen kann.

Sebastian Hennig

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