Bildungsfernsehen für das Bürgertum

Zur Premiere von „Die Ratten“ an den Landesbühnen am 21./22. April 2012

Zu Beginn drei Mutmaßungen über das treue Premierenpublikum an den Landesbühnen in Radebeul. Erstens: Es gehört nicht der sozialen Schicht an, die Politiker und Soziologen seit einigen Jahren als „Prekariat“ bezeichnen. Zweitens: Es hat keine oder nur sporadische Erfahrungen mit Sendungen des Privatfernsehens, die das Leben eben dieser Schicht zur Schau stellen, indem sie eine inszenierte Realität mit angeheuerten Laiendarstellern schaffen. Drittens: Es glaubt nicht an alles, was es sieht, aber den eigenen Augen traut es schon. Ausgehend von diesen Annahmen verdient der Besuch der jüngsten Produktion im Radebeuler Stammhaus das Prädikat „Bildungsfernsehen“. Fernsehen? Ja, denn Regisseur Arne Retzlaff erzeugt ein raffiniertes, weil vielschichtiges Spiel im Spiel, in dessen Verlauf die Zuschauer im Theatersaal immer mehr in die Rolle von Voyeuren am häuslichen Fernsehgerät gedrängt werden, die aus sicherer Warte, im Warmen sitzend, den Temperaturstürzen auf der Bühne folgen müssen. Aber Vorsicht: Was noch am Anfang wie ein klassisches Hauptmann-Stück im naturalistischen Textgewand daherzukommen scheint und also etwas „darstellt“, entfaltet zunehmend einen suggestiven Sog als Lehrstück über die Macht der Bilder und der inszenierten Wirklichkeit, indem es nur so tut, als stellte es etwas dar, was freilich nicht heißt, dass es nicht wahr sein könnte.

»Die Ratten«, Michael Heuser als Hassenreuter, Sandra Maria Huimann als Walburga

Die Protagonisten agieren auf einer studiotauglichen Bühne (Grit Dora von Zeschau) mit rotem Talkshowsofa, schmalem Überraschungsgastvorhang und angeleuchtet von buntem Diskogeflimmer, bisweilen noch mit effektvollem Tabakqualm umnebelt. Das alles passt zum Regiekonzept und wird nur gebrochen durch wenige Anspielungen auf die Entstehungszeit des Stückes (Kinderwagen, Kleidung von Frau John und Maurerpolier John). Gerhart Hauptmann siedelte seine Tragikomödie in einem Mietshaus im Berlin des späten 19. Jahrhunderts an und stellt den uralten Konflikt zweier Frauen um die Mutterschaft eines Kindes in den Mittelpunkt. Frau John, eine einfache, aber mit beiden Beinen im Leben stehende Frau (Julia Vincze) behauptet – letztlich vergeblich – das Primat der sozialen Mutterrolle vor der natürlichen, die dem unwillentlich schwanger gewordenen Dienstmädchen Pauline Piperkarcka (Dörte Dreger) zugehörig ist. In den Nöten, Konflikten, Interessen und Sehnsüchten dieser beiden Frauen verdichtet sich die Haupthandlung, die tragisch für alle endet: Frau John wird von ihrem enttäuschten Ehemann (Matthias Henkel), der sich um sein Kind betrogen fühlt, verlassen, sie begeht Selbstmord und Pauline wird durch Frau Johns kriminellen Bruder (David Müller) nicht ganz unbeabsichtigt umgebracht. Hauptmann verwebt diese Handlung mit einer Nebenhandlung, die den „Ratten“ auch noch ein komisches Element verleiht. Und so beginnt der 1. Akt auch leichtherzig auf dem Dachboden des Berliner Mietshauses mit Amouren, Verwechslungen und Irrtümern. Theaterdirektor a.D. Hassenreuter (Michael Heuser), seine Frau (Ursula Schucht) und seine Tochter Walburga (Sandra Maria Huimann) treten da ebenso auf wie Erich Spitta, ein Pastorensohn und Privatlehrer (Marc Schützenhofer), der in Walburga verliebt ist und Alice Rüttersbusch (Wiebke Adam Schwarz), eine Schauspielerin und Geliebte von Theaterdirektor Hassenreuter. Zur Personage des sozialen Dramas gehören noch die heruntergekommene Prostituierte Sidonie Knobbe (Anke Teickner) und ihre halbwüchsige Tochter Selma (Franziska Hoffmann).

Julia Vincze als Frau John und Dörte Treger als Pauline Piperkarcar

Wenn es die Aufgabe von Theater ist, klassisch zu nennende Stücke ins Hier und Jetzt zu holen und aus heutiger Sicht nachvollziehbar und bildend zu deuten, dann ist den Landesbühnen mit den »Ratten« eine starke Lesart geglückt. Wenn es der Anspruch einer Inszenierung ist, mit Mitteln der Verfremdung und Dekonstruktion den Zuschauer intellektuell herauszufordern ohne ihn zu überfordern, dann hat Arne Retzlaff mit dieser Arbeit ein Ausrufezeichen gesetzt. Wenn es die Pflicht eines Rezensenten ist, den Lesern mit einer Theaterkritik auch Orientierung für einen künftigen Besuch im Schauspiel zu geben, dann dürfte diesem Vorsatz hiermit eindeutig nachgekommen worden sein.

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