Zur Premiere von „Clavigo“ auf Schloss Weesenstein am 19.10.2012
So wie gute Bilder erst im passenden Rahmen ihre ganze Aussagekraft entfalten, so verdienen auch dramatische Texte eine adäquate Bühne, wenn sie als Theaterstück umgesetzt werden sollen. „Adäquat“ ist der bespielte Raum nur dann, wenn man dadurch dem Sujet gerecht wird, die Wirkungsabsicht des Autors aufnimmt und – falls das Stück schon zum Kanon gehört – in die heutige Zeit übersetzt. Insofern ist das jüngste Projekt des Schauspiels an den Landesbühnen Sachsen wohl schon jetzt, unmittelbar nach seiner Premiere, als gelungen zu bezeichnen. Denn die neu begründete Reihe „Theater im feudalen Raum“ vereint aufs Glücklichste den Prunk vergangener Zeiten, wie er etwa in Schloss Weesenstein anzutreffen ist, mit dem literarischen Erbe der Klassik, als deren bedeutendster Vertreter Goethe gilt.
„Clavigo“ in der Inszenierung von Arne Retzlaff überzeugt als intensives, geradezu körperlich erfahrbares Kammerspiel. In einem mittelalterlichen Saal in Schloss Weesenstein, kaum höher als manche Wohnräume in Radebeuler Villen, nehmen die Zuschauer (es werden am Premierenabend nicht mehr als 80 gewesen sein) um ein nahezu quadratisches Geviert Platz, das ein etwa in Kniehöhe verlaufendes Kordelband als Spiel- und gleichermaßen auch als museale Ausstellungsfläche markiert, was durch Schilder mit der Aufschrift „Clavigo – Goethe“ deutlich gemacht wird. Dem Einfall, dieses Stück als für die Dauer von 75 Minuten lebendig werdendes Exponat zu inszenieren, tragen Anfang und Ende Rechnung: Alle fünf Akteure entfalten ihr Spiel aus einem Standbild heraus und kehren in ein solches zurück. Mit diesem Kunstgriff wird die Verbindung von Stück und (Ausstellungs-) Raum augenfällig hergestellt und dem Publikum signalisiert: Was Sie hier sehen und hören, das hat sich so oder ähnlich im feudalen Raum (Madrids) zugetragen, es könnte aber auch anderswo, z.B. im Umfeld des Dresdner Hofes, genauso so geschehen sein. Denn im ursprünglich als Trauerspiel deklarierten „Clavigo“ (1774) nimmt Goethe einen historisch verbürgten Fall auf, in dessen Zentrum die Familie Beaumarchais aus Paris steht (Pierre de Beaumarchais schrieb die Vorlagen zu Mozarts Opern „Der Barbier aus Sevilla“ und „Die Hochzeit des Figaro“) und der aus ärmlichen Verhältnissen von den Kanaren stammende, zur Mitte des 18. Jahrhundert aber in Madrid schnell zu Ansehen und Erfolg aufgestiegene José Clavijo y Fajardo. Dieser Clavigo, dessen innerliche Reifung mit seinem gesellschaftlichen Aufstieg nicht mithalten kann, taugt nicht zum Helden. Eingeklemmt einerseits zwischen den Erwartungen der höheren Kreise um den spanischen Königshof (vertreten durch seinen Freund Carlos), die ihn für höhere Aufgaben vorsehen und andererseits den Ehrbegriffen der Familie Beaumarchais, die auf der Einhaltung seines Heiratsversprechens gegenüber Tochter Marie pocht, vermag Clavigo nicht unbeeinflusst und souverän zu agieren „ Es ist nichts erbärmlicher als ein unentschlossener Mensch“ heißt denn auch treffend eine zentrale Aussage dieser Stückfassung, die stringent die von Goethe eigentlich auf fünf Akte angelegte Handlung in sechs Bildern zur Aufführung bringt. Die von Cornelia Just sparsam besorgte, auf das Ambiente der Goethezeit Bezug nehmende Ausstattung ist ein optischer Genuss und trägt auch den wechselnden Spielorten und den dortigen Gegebenheiten flexibel Rechnung (außer in Weesenstein steht „Clavigo“ auch noch in der Albrechtsburg Meißen, im Barockschloss Rammenau und in der Studiobühne im Stammhaus Radebeul auf dem Spielplan). Den fünf Darstellern gelingt insgesamt eine im Zuschauer lange nachwirkende, am Ende berechtigterweise mit sehr viel Beifall bedachte Interpretation, wobei meiner Wahrnehmung nach einzelne Figuren besonders überzeugend angelegt sind. Marc Schützenhofer in der Hauptrolle etwa vermag seiner Figur glaubhaft die schwankende Unentschlossenheit zu verleihen, die Carlos (Mario Grünewald agiert wie gewohnt mit starker stimmlicher und räumlicher Präsenz) für seine Ziele mit teilweise demagogischer Lust an der Destruktion auszunutzen versteht. Dörte Dreger als Marie Beaumachais ist zweifellos eine geeignete Besetzung für die als kränklich und schmal gezeichnete ehemalige Verlobte des Clavigo, obwohl mir persönlich das Leiden dieser Figur zu plakativ vermittelt wurde (auch ohne rote Theaterfarbe und fortwährendes Röcheln kann ein Lungenleiden mit blutigem Auswurf gezeigt werden u.a.). Sophie Lüpfert, seit dieser Spielzeit neu im Ensemble, als Maries Schwester Sophie Guilbert, steht für eine sehr bedachte und umsichtige Interpretation ihrer Rolle als die ältere der beiden jungen Frauen. Die Entdeckung des Abends war für mich allerdings Michael Berndt als der Bruder von Sophie und Marie. Sein fünf oder gar noch mehr Minuten währender Monolog im Hause des Clavigo war für mich der Höhepunkt in Bezug auf darstellerische Eindringlichkeit und sprachliche Überzeugungskraft.Anerkennung und Dank gilt den Verantwortlichen der Landesbühnen und des Schlösserlandes Sachsen für die begonnene Zusammenarbeit, um deren Zukunft uns so lange nicht bange sein muss, als es klassische Werke auf diese Weise wiederzuentdecken gilt.
Bertram Kazmirowski