Leserzuschrift

Dem Umstand Rechnung tragend, dass unser Januarheft bereits schon vor den Weihnachtsfeiertagen ausgetragen wird, und eingedenk der nicht unüblichen liturgischen Praxis, die Weihnachtszeit zum 2. Februar, mit Mariä Lichtmess ausklingen zu lassen, ist die nachstehende Geschichte durchaus nicht als Verspätung anzusehen.

Eine wahre Weihnachtsgeschichte – zugetragen vor 40 Jahren in Radebeul

Nun kannte ich die alte Frau nun schon über zwei Jahre. Unsicher und fragend sah ich an den Kreuzungen unserer Straßen stehen. Sie traute sich nicht, sie allein zu überqueren.
Die großen braunen lebendigen Augen verrieten nichts von dem sehr schlechten Sehen, und dankbar nahm sie jede Hilfe an, sich führen zu lassen. Ich machte es mir nun zur täglichen Aufgabe, sie an den Werktagen von der Eisdiele Neumann, an den Wochenenden vom Bahnhofshotel oder der Gaststätte „Vier Jahreszeiten“ nach Hause zu begleiten. Trotz der achtzig Jahre Alterunterschied entwickelte sich über die Zeit eine besondere Freundschaft.
Ich hatte wegen des Krieges keine Großeltern kennen gelernt, ihr waren die Söhne im Kriege gefallen. Woher nahm sie die Kraft? Sie stand wie eine Säule, fest gegründet auf einem unerschütterlichen Glauben. Bald stellte ich auch fest, dass sie nur ganz wenig zu sich nahm. Der Speisezettel bestand aus einem trockenen Brötchen, Kaffee und einer Portion Schlagsahne. Aber da waren noch die monatlichen Päckchen alter ehemaliger Radebeuler: Schmidts vom Karl-May-Verlag, Nachfahren der Fabrikanten Koebig und Thönes dachten noch mit Suppen, Schokolade und Kaffee an sie. Ob sie wollte oder nicht.
Suppen konnte ich gerade noch kochen. Die paar Löffel mussten gegessen werden, denn ich wollte sie mir unbedingt erhalten.

Ende November 1972 gab es einen großen Sturm. Im Wald fand ich viele herunter gebrochene Äste von Kiefern. Es kam mir der Gedanke, diese mit zu der alten Frau zu nehmen.
Die vielen Vasen würden noch einmal ihren Zweck erfüllen. Damit lag ich richtig.
Das Zimmer duftete und sah nun richtig schön aus. In ihr lebte die Weihnachtszeit auf.
Ich zündete Kerzen an und es wurden Lieder gesungen, die ich eigentlich gar nicht kannte.
Das stimmte sie immer etwas traurig.
Das Weihnachtsfest stand vor der Tür. Sollte ich vielleicht noch einmal einen Christbaum hinstellen? Ein kleiner Baum war kaum zu haben, elektrische Kerzenbeleuchtung gab es so gut wie nicht zu kaufen. Und mehr Baumschmuck von zu Hause konnte ich nicht entwenden, denn dann hätte er für unseren Baum nicht mehr gereicht.
Doch dann geschah ein kleines DDR-Weihnachtswunder. Man kannte die alte Dame noch von ihrem Schokoladengeschäft und nun auch mich. Von ihrem Haus schräg gegenüber gab es die Obst- und Gemüseverkaufsstelle „Tutti Frutti“, wenn ich mich richtig erinnere. Der dort zuständige Baumverkäufer glaubte mir mein Anliegen und gab buchstäblich hinten herum ein kleines Bäumchen. Es war sehr hübsch.
Für mich Ansporn, den nächsten Schritt in Angriff zu nehmen. Den Kauf einer elektrischen Kerzenbeleuchtung tätigte ich besser im Beisein von Frau Krause. Im Elektrogeschäft Hahmann wurden wir sehr freundlich begrüßt. Mit einem Strahlen im Gesicht brachte er unter dem Ladentisch eine Beleuchtung hervor. Nun hatten wir auch noch die absolute Mangelware erhalten. Voller Mut ging ich jetzt gleich noch mit ihr in ein anderes Nachbarhaus – zu Farben Wäller. Der Inhaber verschwand nach einem kurzen Blick zu seiner Frau hinter dem Vorhang. So kamen wir auch noch zu sehr schönen Kugeln, Glocken und Trompeten sowie Lametta.
Den Baum schmückte ich ihr nach alter Sitte Heilig Abend. Danach brachte und holte ich sie wieder von der Christvesper ab. Leider war ich noch nicht soweit mit in die Kirche zu gehen.
Die Freude aber war umso größer, als der Baum erstrahlte. Es war der schönste Baum ihres Lebens! Etwas skeptisch war ich ja.
Aus dem Mündelgeld ihres Vaters gründete sie 1900 fünf Schokoladengeschäfte, hatte dann selbst eine Familie und ohnehin waren Eltern und Großeltern königliche Hoflieferanten.
Mit der Zeit verlor der Baum sämtliche Nadeln, die elektrischen Kerzen hingen nun noch verkehrt von den Ästen, den Baumschmuck rettete ich, bevor er zu Bruch ging.
Aber der Baum musste stehen bleiben, es war noch immer der Schönste.
Es nahte der erste Februar 1973, ihr 95. Geburtstag. In der Tageszeitung „Die Union“ (CDU) hatte ich die Gückwünsche zu ihrem Geburtstag mit drucken lassen: „Wir gratulieren Frau Helene Krause, 8122 Radebeul, Ernst-Thälmann-Straße 19, zum 95. Geburtstag“. Und selbst war ich gespannt, ob noch andere Gratulanten kämen.
In allerletzter Minute, am 31. Januar abends, gelang es mir, doch noch den Baum abzuräumen. Man hätte schlussfolgern können, dass ich mich gar nicht weiter kümmere. Das war nun wirklich nicht der Fall, ich war ihr Junge („mein Junge“) geworden.
Am 1. Februar ging ich dann gleich nach der Schule die vielen Stufen hinauf zum Gratulieren. Es hatten tatsächlich Leute bei ihr angeklopft. Sie wusste nur nicht, woher sich die Menschen an sie erinnerten.
Wir setzten uns. Ich nahm die Zeitung wie an jedem Tag und las vor: „Wir gratulieren…“. Jetzt war das Rätsel gelöst. Eine schöne Geburtstagsfeier richtete dann noch das Personal der „Vier Jahreszeiten“ aus – es war ihre letzte Feier.

André Schröder

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