„Hinter den dicken Mauern von Radebeul passiert so einiges, aber es bleibt länger verborgen als anderswo.“ Anonym
Häusliche Gewalt, Machtstrukturen in Paarbeziehungen, fragwürdige Erziehungsmethoden, die ach so „nett gemeinte“ Hand auf dem Po – dies alles ist für viele Menschen „reine Privatsache“. Spätestens seit der Frauenbewegung wissen wir: Das ist es nicht. Der Umgang mit unseren Nächsten hat Auswirkungen auf die Gesellschaft, die Gesellschaft wiederum beeinflusst unsere Werte und Moralvorstellungen, unsere Möglichkeiten und unser Handeln. Wollen wir Unrecht beseitigen, sind wir als Einzelne, aber auch zusammen gefragt.
Gewalt gegen Frauen: Weltweit und vor Ort
Am 14. Februar dieses Jahres gingen weltweit Menschen auf die Straße: Unter dem Namen „One Billion Rising – Eine Milliarde erhebt sich“ wandten sie sich in Protestkundgebungen, Straßentänzen, Informationsmaterial, Workshops und Plakataktionen gegen Gewalt an Frauen und Mädchen und für Gleichstellung der Geschlechter. Sie zeigten weltweite Solidarität: auf jedem Kontinent, in über 200 Ländern und in über 140 Städten in Deutschland. Eine Milliarde – denn so viele Frauen sind weltweit von körperlicher und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. Jede dritte Frau erleidet in ihrem Leben eine oder mehrere Formen von Gewalt. „Die weltweit häufigste Todesursache von Frauen im Alter zwischen 16 und 44 Jahren ist häusliche Gewalt. Gewalt an Frauen fordert mehr Opfer als Krebs, Verkehrsunfälle, Malaria und Krieg zusammen. Sie findet Tag für Tag in allen Ländern, Kulturen und sozialen Schichten statt“, so Amnesty International.
Ist Deutschland besser?
Das Problem ist keines, was wir – wie in den vergangenen Wochen in den Medien ausführlich geübt – in andere Länder verschieben könnten: In weit entfernten Ländern wie Indien, Tansania oder Kenia läge es auf der Hand, aber bei uns im „aufgeklärten modernen Industriestaat“ Deutschland könne es so etwas nicht geben. Wie zeigt sich die Situation wirklich?
Laut einer Repräsentativstudie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus dem Jahr 2004 sind 40 Prozent der Frauen seit ihrem 16. Lebensjahr von körperlicher und/oder sexueller Gewalt betroffen. Und „58 Prozent der Befragten haben unterschiedliche Formen von sexueller Belästigung erfahren“, so die Untersuchung. Angaffen, anbaggern und schlüpfrige Äußerungen, Annäherungsversuche oder Bedrohungen durch Männer, nahezu jede Frau kennt das. Im März diesen Jahres hat die Bundesregierung ein bundesweites „Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen“ gestartet – rund um die Uhr erreichbar unter: 08000-116016. Angesprochen sind Betroffene von – so die Auflistung des Bundesamtes für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben – häuslicher Gewalt, sexualisierter Gewalt, Stalking, sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, Gewalt im Namen der „Ehre“, Zwangsverheiratungen, Mobbing, Cyber Mobbing, Menschenhandel, Genitalverstümmelung. Auch Fachkräfte können sich dort hin wenden und werden kostenlos beraten. Mehr Informationen gibt es unter www.hilfetelefon.de.
Gesamtgesellschaftliches Problem
Jede vierte Frau ist in Deutschland von genderbasierter Gewalt betroffen, also von Gewalt, die Frauen erfahren, weil sie Frauen sind. Die Täter sind bis auf wenige Ausnahmen männlich. Es geht hier um ein gesamtgesellschaftliches Problem, das im Machtgefälle zwischen den Geschlechtern begründet ist und dieses wiederum verstärkt. Neben den immensen unmittelbaren kurzfristigen und langfristigen Folgen für die Betroffenen führt diese genderbasierte Gewalt gegen Frauen und Mädchen auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene zur Fortführung und Verstärkung von Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern. Denken wir an ungleiche Teilhabemöglichkeiten in der Gesellschaft durch Abhängigkeits- und Unterdrückungsverhältnisse im Privaten. Oder daran, dass die beruflichen Wege von Frauen häufig steinig sind, weil sie sehr oft von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz betroffen sind, wie ja die #aufschrei Kampagne deutlich macht und auch die Studie des Bundesministeriums zeigt. Das hemmt beruflichen Aufstieg und Erfolg, was wiederum Gleichstellung der Geschlechter erschwert. Ungleichheiten zeigen sich auch darin, dass beispielsweise der nächtliche Nach-hause-Weg für Frauen weitaus häufiger von Angst bestimmt ist oder sie durch sexualisierte Belästigungen auf der Straße in ihrer Freiheit eingeschränkt werden – Frauen also öffentliche Räume nicht gleichermaßen frei und unbehelligt nutzen können wie Männer.
Nur ein Bruchteil der Gewaltausübungen wird bei der Polizei angezeigt. In sehr vielen Fällen schweigen die Betroffenen, beispielsweise aus Angst und Schamgefühl. Wie die Studie #ichhabnichtangezeigt deutlich macht, ist immer noch ein großes Problem, dass Betroffenen häufig die Schuld für erlebtes Unrecht zugeschoben wird sowie mangelnde Sensibilität bei Behörden. Entgegen derzeit laut werdenden Befürchtungen ist die Zahl der Falschbeschuldigungen bei sexualisierten Übergriffen sehr gering: Eine europäische Vergleichsstudie (2009) der Londoner Metropolitan University geht davon aus, dass es in Deutschland jährlich zu rund 3 Prozent Falschbezichtigungen kommt. Umgekehrt jedoch werden viele der angezeigten Übergriffe nicht verfolgt, einige Formen genderbasierter Gewalt sind im deutschen Recht noch nicht einmal als solche anerkannt. Auch von Werbung über Presse bis hin zur öffentlichen Meinung und der Politik werden viele Formen von Gewalt gegen Frauen oft als „normaler Umgangston“ angesehen und Belästigungen werden als „Herrenwitz“ betitelt.
Radebeul kein weißer Fleck
Radebeul ist selbstverständlich in Deutschland diesbezüglich kein „weißer Fleck“, warum sollte auch gerade diese Stadt eine Ausnahme sein? Gewalt gegen Frauen ist ein Problem in den verschiedensten Kontexten, in allen gesellschaftlichen Schichten, an unterschiedlichen Orten – zu Hause, bei der Arbeit oder auf der Straße – und in allen Altersgruppen. Die Radebeuler Beratungs- und Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt hat im vergangenen Jahr 71 Frauen aus dem Landkreis Meißen betreut. Allein diese Einrichtung des Katholischen Sozialdienstes verzeichnet 276 Beratungsgespräche im letzten Jahr, Annett Kobisch erklärt: „Häusliche Gewalt ist auch in Radebeul ein Thema. Leider existiert hierfür keine eigene Statistik. Wir arbeiten zurzeit mit insgesamt zwei halben Stellen für die Landkreise Meißen und Sächsische Schweiz, durch die intensive Betreuung und die langen Wege schaffen wir oft nur einen Auswärtstermin am Tag.“ Seit Jahren meldet sie einen höheren personellen und finanziellen Bedarf an, dieser Ruf wurde von den zuständigen Stellen des Landes Sachsen noch nicht erhört. Doch Kobisch und ihre Kollegin machen weiter, Betroffene erreichen sie online über www.skf-radebeul.de oder telefonisch unter der Nummer: 0351/79552205. Die Interventionsstelle bei häuslicher Gewalt zeigt, dass initiativergreifende Arbeit an dieser Stelle von besonderer Bedeutung ist. Das ins Internetstellen einer Telefonnummer und Sprechzeiten reicht nicht aus.
Genderbasierte Gewalt ist vor allem ein Problem, das wenig öffentlich thematisiert wird. Die allermeisten Fälle werden von den Betroffenen, wenn überhaupt, im engsten, vertrauten Kreis besprochen. Sei es die nicht bei der Polizei angezeigte Vergewaltigung, über die nach jahrelangem Schweigen der Tochter berichtet wird, oder die Hand des Sitznachbars in der Linie 4 auf dem Oberschenkel, von der die Freundin beschämt hinter vorgehaltener Hand erzählt. Das Projekt „Hollaback! Dresden und Umgebung“ bietet deswegen Betroffenen die Möglichkeit, anonym ihre Erfahrungen aufzuschreiben und öffentlich zu machen. Auch Berichte über sexualisierte Belästigungen in Radebeul sind auf dresden.ihollaback.org zu finden.
Radebeul engagiert sich
Genderbasierte Diskriminierung und Gewalt ist ein gleichstellungspolitisch hoch relevantes Thema. Um die Gleichstellungspolitik in Radebeul zu stärken und voranzutreiben, haben wir vier gemeinsam mit fünf weiteren Aktiven am 1. März den „Initiativkreis Gleichstellungpolitik in Radebeul“ gegründet. Unter den neun Anwesenden waren junge und ältere Menschen, Männer und Frauen. Es gibt noch kein vollkommenes Programm, aber viele gute Ideen zu ganz unterschiedlichen Themenbereichen. Grundlegende Ziele sind die Unterstützung der Arbeit der hauptamtlichen Gleichstellungsbeauftragten, eine stärkere Vernetzung bestehender Projekte und politische Lobbyarbeit für gleichstellungspolitische Belange. Alle Interessierten sind herzlich eingeladen zu unserem nächsten Treffen am 16. Mai, 16:30 Uhr im Restaurant Kreta in Radebeul-Ost.
Claudia Jobst, Martin Oehmichen, Sophie Maria Ruby, David Schmidt