Die Liebe ist des Menschen größtes Licht
Gedanken zum Ableben von Gottfried Reinhardt
Es war ein seltsames Gefühl, als ich zum ersten Mal eine Aufführung von Gottfried Reinhardt erlebte. Die offene Spielweise in ihrer versachlichten Form hatte längst im Figurentheater Einzug gehalten. Und plötzlich stand da in dem kleinen Raum der Radebeuler Galerie eine barock anmutende Guckkastenbühne mit bunten Tüchern und teppichartigen Stoffen behängt, mit Spitze verziert und kleinen Kronleuchtern, die einen in ferne Zeiten zurückversetzte. Puppentheater für Erwachsene von Gottfried Reinhardt war selbst 1988 noch ein Geheimtipp in der Dresdner Szene und anderswo.
Eingeladen hatte ich den Puppenspieler zur Jubiläumsfeier anlässlich des 5-jährigen Bestehens der »Kleinen Galerie Radebeul« auf ausdrücklichen Wunsch der Radebeuler Künstlerschaft, welche an diesem Abend auch den Großteil des Publikums bildete. Schon das mag die Besonderheit Reinhardt`scher Aufführungen unterstreichen. Die Stimmung war recht ausgelassen. Claus Weidensdorfer, Maler und Grafiker aus Radebeul, stieg auf einen Tisch, um lustvoll den Programmzettel zu verlesen. Der Bildhauer Detlef Reinemer bereicherte die Vorführung seinerseits durch den wiederholten Zwischenruf »Machse naggsch, mach se naggsch!«. Ein Ruf, der noch häufig erschallen sollte und jenen reichlich eigenwilligen weiblichen Figuren Reinhardt`scher Schöpfung galt. Weniger das Spiel, schon eher die Texte waren es, die das Publikum vor Entzücken aufjuchzen ließ und immer wieder zu Gelächter und Zwischenrufen veranlasste. Mit einfachen Knittelversen wurden selbst erfundene Stücke vorgetragen, Opernstoffe und Theaterklassiker parodiert, in denen oft harte politische Wahrheiten und menschliche Weisheiten verpackt waren. Seine hintersinnigen Wortspielereien entsprachen dem Code, mit dem man sich in der DDR zu verständigen wusste. Unerträgliches wurde durch Humor erträglich, »denn Freiheit wie ihr wisst, der Mensch als Narrenfreiheit nur besitzt«. Und so ging es in der Guckkastenbühne mitunter recht ruppig zu. Die Helden seiner Dramödien waren verstrickt in Mord und Totschlag, Hass und Leidenschaft, Lust und Liebe, Komplott und Intrige. Kasper, Tod und Teufel hatten alle Hände voll zu tun.
Es war der 30. Dezember 1972, als Gottfried Reinhardt in der Schinkelwache am Dresdner Theaterplatz erstmals mit zwei von ihm verfassten Puppentheaterstücken vor Studienfreunden auftrat. Damals waren seine Aufführungen mehr als geheim, denn er spielte ohne behördliche Zulassung, bis er schließlich zu Beginn der 1980er Jahre eine Einstufung als »Volkskünstler« erhielt. Seine Stücke schrieb er selbst, gestaltete Figuren und Kulissen, führte Regie und schlüpfte natürlich auch in alle Rollen. Über 2.000 Aufführungen in Privatwohnungen, Gaststätten, Gärten, Ateliers, kirchlichen Räumen, Museen und Galerien sollten diesem ersten Auftritt folgen.
Gottfried Reinhardt ist tot, gestorben am 23. Juni in einem katholischen Alten und Pflegeheim in Dresden. Die Nachricht verbreitete sich entlang des Elbhangs von Loschwitz bis in die Lößnitz wie ein Lauffeuer. »Das kleine Welttheater bleibt geschlossen« schrieb Birgit Grimm in der Sächsischen Zeitung. Zur Beerdigung am 2. Juli hatten sich noch einmal Freunde und Familie, vor allem aber Vertreter der Puppen spielenden Zunft, Maler, Bildhauer, Architekten, Ärzte, kurzum Bürger mit kultureller Bildung sowie zahlreiche Mitglieder der Russisch-Orthodoxen Gemeinde auf dem Loschwitzer Friedhof versammelt, um Abschied zu nehmen von einem eigenwilligen Künstler, der bereits zu Lebzeiten eine Legende war und, der sich selbst immer treu geblieben ist. Am Nachmittag traf sich dann ein kleinerer Kreis in den »Bühlauer Waldgärten«. Der Bildhauer Helmut Heinze verlas Gottfried Reinhards selbstverfassten »Lebenslauf«, welcher in mindestens drei unterschiedlichen Fassungen existiert. In der Niederschrift aus dem Jahr 2013 formuliert er etwas abständig zu sich selbst: »Die Person, um die es sich handelt, heißt Gottfried Reinhardt. Sie war zum Leben verurteilt worden; das Urteil wurde am 30. Mai 1935, dem Himmelfahrtstag des Jahres, in der Dresdner Südvorstadt, Bayreuther Straße 24 vollstreckt. Er war ein dünnes Kind mit dünnen Beinchen…Die Beine des Kindes wurden im Kinderwagen stets sorgsam zugedeckt, damit sie von den Leuten auf der Straße nicht bemerkt würden.« Dass er mit diesen Beinen mehrere Berge bestiegen hat, war sein später Triumph. Und so schließt sich bei ihm der Kreis auch mit den Worten »Das Ende wird als ein schönes ersehnt, wie in der Oper. Am liebsten auf einem Berg in schöner Landschaft oder in einem Garten.«
Der Zweifel am menschlichen Verstand, vor allem an den sich autoritär gebärdenden Institutionen, regte sich bei ihm schon früh. Hatte er doch als Zehnjähriger die Zerstörung Dresdens miterleben müssen. Auch fand er manche Lehrer zum Kotzen, andere wiederum schätzte er sehr, weckten sie doch in ihm das Interesse für die Antike, die Architektur und die Kunst. Das Architekturstudium soll er allerdings recht lustlos absolviert haben. Stattdessen folgte Reinhardt dem eigenen Dämon und wendete sich dem Theater zu. So war er zunächst als Gestalter im DEFA-Studio für Trickfilme in Dresden tätig, später dann als Bühnenbildner an verschiedenen kleinen Theatern. Er selbst bezeichnete sich als Opernmensch, was wohl nicht nur der Vorliebe für dieses Metier sondern seiner generellen Lebensauffassung entsprach.
Gottfried Reinhardts Guckkastenbühne
Vier Jahrzehnte verbrachte Gottfried Reinhardt in Loschwitz bis er sich in Obergruna ein kleines Fachwerkhaus kaufte, um wie er meinte, aus der konservativen Enge Dresdens zu entfliehen. Katzen waren seine Gefährten und wie Ikonen malte er ihre Porträts auf alte Kuchenbretter und Türen. Allerdings lies er sich stets eine Hintertür offen. Der Kontakt zur Elbhangbohème riss nie ab. Denn, das war ihm klar, zum Puppenspiel brauchte er nicht nur »Puppen als Schauspieler« sondern es bedurfte auch der »Spielschauer«. Sein Ein-Mann-Wandertheater hatte ihn davor bewahrt, ein eigenbrötlerischer Misanthrop zu werden. »Traurig wäre unser Leben, tät es kein Theater geben…Wir aber wollen nur erreichen, dass ihr erkennt, wie sich die Bilder gleichen.«
Noch viele Male hatte ich das Vergnügen, Gottfried Reinhardt nach Radebeul einladen zu können. Ein Höhepunkt, den ich wohl nie vergessen werde, war zweifelsohne die Buchpräsentation am 13. Juni 2008 in der Stadtgalerie, verbunden mit der Aufführung des Stückes »König Ödipus«. Der Radebeuler NOTschriften-Verlag brachte unter dem Titel »Puppentheaterstücke von Gottfried Reinhardt« das gesamte dramatische Werk des Künstlers heraus, welches 16 Stücke umfasst. Es ist zweifelsohne der Verdienst des Herausgebers Uwe Arnold, die nur handschriftlich vorhandenen Originaltexte, die durch den jahrelangen Gebrauch teilweise unleserlich oder beschädigt waren, für das Buch aufbereitet zu haben. Einige der Textblätter schrieb Reinhardt noch einmal neu und nahm dabei kleine Änderungen vor. Das Buch enthält auch ein Interview, welches der Autor mit sich selbst führte. Das Vorwort verfasste Prof. Helmut Heinze.
Ein Schlaganfall im September 2008 veränderte für Gottfried Reinhardt alles. Er sollte nie mehr eine Handpuppe führen und in seiner Guckkastenbühne hockend, den letzten Applaus abwarten können. Nach dieser traurigen Nachricht habe ich ihn mit meinem Lebenspartner Karl Uwe Baum in Obergruna besucht. Uns bewegte die Frage, was würden wir vorfinden? Die Türen standen offen. Ungewohnte Geräusche drangen aus dem Inneren des Hauses. Handwerker machten sich daran, ein wenig Komfort zu schaffen, um künftig die alltäglichen Verrichtungen zu erleichtern. Im Untergeschoss befand sich ein Kastenbett. Durch die kleinen Fenster des Fachwerkbaus fiel nur wenig Licht. Zu sehen war ein grauer Haarschopf, der sich im Rhythmus des ruhigen Atems bewegte. Wir warteten. Als Gottfried Reinhardt schließlich erwachte, freute er sich uns zu sehen. Da war er noch voller Hoffnung und meinte, wenn ihr das nächste Mal kommt, trinken wir aber zusammen ein Bier. Doch zu einem nächsten Mal in Obergruna sollte es nicht kommen…
Alles fand schließlich ein gutes Ende. Der Tod kam in friedlicher Absicht. Das Lebens-Werk gelangte in die richtigen Hände. Mitschnitte seiner Puppentheateraufführungen wurden archiviert, seine Texte gedruckt und veröffentlicht, ein großer Teil vom Fundus fand im Depot der Puppentheatersammlung einen sicheren Platz. Öffentliche Anerkennung und Würdigung empfing Gottfried Reinhardt im Jahr 2011, als ihn die Große Kreisstadt Radebeul mit dem Kunstpreis für sein künstlerisches Werk und Wirken als Puppenspieler, Autor, Maler und Grafiker auszeichnete. Die Kunstpreistrophäe, ein Hermaphrodit, geschaffen von der Radebeuler Bildhauerin Gabriele Reinemer, dürfte ihm in seiner Mehrdeutigkeit gefallen haben.
Gottfried Reinhardt hat sich nie verkauft, er hat sich immer verschenkt. Honorare stiftete er dem Tierschutzverein. In der Russisch-Orthodoxen Kirche wirkte er ehrenamtlich als Diakon. Die russische Seele lag ihm wohl näher als die deutsche. Als er dann krank wurde, fanden sich Menschen, die ihm zur Seite standen. Der Bildhauer Prof. Helmut Heinze und seine Frau, die Bühnen- und Kostümbildnerin Erika Simmank-Heinze, sowie deren Söhne mit Familie und vor allem auch die Zahnärztin Dr. Inka Reuther sowie viele Freunde blieben ihm bis zuletzt innig und hilfreich verbunden. »Die Liebe ist des Menschen größtes Licht, und ist es noch so hell, es blendet nicht.«
Wenn auch Gottfried Reinhardts Passion als Maler und Grafiker in diesem Beitrag zu kurz gekommen ist, sollte doch noch erwähnt werden, dass eine kleine Kollektion seiner Arbeiten bis zum 10. August in der Kunstausstellung Kühl in Dresden zu sehen ist. Der Aufforderung, die Erinnerung an Gottfried Reinhardt mit Leben zu füllen, wollen wir, mein Lebenspartner und ich, gemeinsam mit Uwe Arnold gern nachkommen. So laden wir schon heute anlässlich des einjährigen Todestages von Gottfried Reinhardt am 23. Juni 2014 in das Kunsthaus Kötzschenbroda zum Lieder-, Lese-, Spiel- und Filmabend ein.
Karin Gerhardt
Ein Kommentar
Gottfried Reinhardt wurde am 30. Mai 1935 geboren. Dieses Jahr (2020) ist also sein 85ter Geburtstag. Die Dresdner Landschaft war mit Leuten wie ihm nicht grau und eng und angepasst. „Zur Tierzucht haben wir Vertraun, uns schützt ja der Elektrozaun.“ Ein subversiver Anarchist und Philosoph, und voller Farbe und Leben und tiefer Liebe. Ich erinnere mich, wie er zum 50. Geburtstag meiner Mutter auf ihrem Balkon stand am Nürnberger Platz und aus voller Kehle seine klagende Bassstimme schallen liess: „Ich lass mich scheiden!“. Was solln denn da die Nachbarn denken?