Laudatio anlässlich der Verleihung des Kunstpreises der Großen Kreisstadt Radebeul an den Autor Jörg Bernig [gekürzte Fassung]

[…] Es geht um jenen Jörg Bernig aus Radebeul, um ganz genau zu sein: aus Kötzschenbroda, der, seit er hier lebt, also seit 1995, drei Bände Gedichte, zwei Essaybände und einen Band mit Erzählungen sowie drei Romane in renommierten Verlagen veröffentlicht hat. Mancher Text von ihm, vor allem aber sein erfolgreichster Roman wurde und wird in andere europäische Sprachen übertragen. […] Dennoch bedurfte es zahlreicher Preise, Stipendien und Berufungen in Akademien, bis man sich entschloss, den Poeten nun auch in seiner Heimatstadt auf den Schild zu heben. Und das ist gut so – gut Ding will auch Weile haben.

Der frisch gekürte Kunstpreisträger Jörg Bernig

Der frisch gekürte Kunstpreisträger Jörg Bernig


Der Radebeuler Kunstpreis ist ein im Wortsinn schönes Zeichen […] mit dem diese Stadt nun den in Wurzen geborenen Jörg Bernig als einen der Ihren auszeichnet und damit endgültig hier vergemeinschaftet. Wenn ich es recht überblicke, ist er der zweite bekannte Wurzener, der in Radebeul, um ganz genau zu sein: in Kötzschenbroda, Wurzeln geschlagen hat – der erste Radebeuler Wurzener war den Künsten zwar auch verbunden, als Mäzen, hauptberuflich allerdings war er Apotheker, Chemiker und Unternehmer, der mit seinem neuartigen Ratten- und Mäusegift reich und bekannt wurde: Hermann »Mäusetod« Ilgen. Ganz anders Jörg Bernig: Er wurde bislang – leider – nicht reich, aber er besitzt die Gaben, der Stadt Radebeul als Mäzen in ganz anderen Kategorien Reichtum zu stiften, nämlich im Wort und damit auch in der Zeit und über die Zeitläufte hinweg: Was bleibet aber, stiften immer noch die Dichter, wenn auch dieses Hölderlinzitat schon ziemlich abgegriffen scheint. Jörg Bernig ist […] in Radebeul am richtigen Ort angekommen […]. An der hiesigen Elbe weiß er mit seinen Romanen, Gedichten, Erzählungen und Essays an jenes, ‚das am Herzen ihm liegt‘, an das alte Mitteleuropa anzuknüpfen, das in den Verheerungen des 20. Jahrhunderts so versehrt und verschüttet worden ist, jenes Mitteleuropa, das zwar selbst keineswegs idyllisch gewesen ist, aber doch ungeheuer reich und vielfältig. Ich zitiere:

»das dörfchen von den hussiten zerstört erdbodengleich 1429
zweihundertsechzehn jahre darauf
der friedensschluß zwischen Sachsen
und Schweden in einer kirche

von der elbe herauf hört man
das schaufelradklatschen
der dampfer auf ihrem weg
stromabwärts nach Meißen oder
das schnaufen der schlepper nach Prag

im sommer ist das flußtal
ein becken voll zirpen
eine gabelweihe schreit einsam
wenn der wind dreht rauscht herüber
die straße von Aachen nach Görlitz

im winter krallen die bäume sich fest an den bäuchen tiefziehender wolken
alle fensterläden sind dann geschlossen
ganz wie in Italien hier am nördlichsten
pol eines sehr fernen südens«.

Dieses schöne Gedicht legt in Kötzschenbroda auf eine für Bernig typische Art und Weise weitreichende historische Schichten frei, zieht große Linien, und das alles mit Blick auf eine scheinbare Peripherie, auf vermeintlich abgelegene Landstriche […] – dergleichen Kategorien: Hier schicke Hauptstadt, dort provinzielle Randständigkeit sind seit jeher fragwürdig, bewegt man sich nicht in der Welt kurzlebiger Moden. Hatte doch schon Carl von Ossietzky durch das Berliner Großstadtgetöse »auf Schritt und Tritt das Geklapper von Kötzschenbroda« hindurchgehört… Michael Wüstefeld […] hat in einer Besprechung über Jörg Bernigs Lyrik bemerkt, man höre darin »zuweilen die Fahnen von Hölderlin klirren oder Czechowskis Berge sanft wie Tiere neben dem Fluß gehen«. Was er damit präzis benennt, ist die produktive Verankerung unseres Autors in einer fruchtbaren Tradition, einer alles andere als rückständigen‚ sächsischen Dichterschule, die ihrerseits mit guten Traditionen arbeiten konnte. Diese Verankerung bewahrt Bernig vor zeitgeistiger Scharlatanerie ebenso wie vor seicht spätexpressionistischer Befindlichkeitsliteratur. Die Themen, die Jörg Bernig […] verhandelt, liegen jenseits jeder politischen Tendenzliteratur einerseits, jenseits aber auch von jeder falschen Innerlichkeit oder penetranten Nabelschau […]. Bernig gehört einer Autorengeneration an, die im politisch geteilten Deutschland erwachsen wurde und ihre primäre Prägung jeweils in der DDR oder in Westdeutschland erhalten hatte. Doch paßt Bernig keineswegs in geläufige Ost-West-Schemata, denn anders als mancher seiner Zeitgenossen hüben und drüben hat er keine‚ einschlägige‘ Biographie vorzuweisen […]. Man kann ihn als einen jener Autoren kennzeichnen, die […] erst im vereinigten Deutschland – durchaus ernüchtert – zu ihrem Schreiben fanden, daher die alten Trennungen und Zuordnungen, das politische Lagerdenken jenes langen, leider bis heute wirksamen 19. Jahrhunderts hinter sich ließen und uns […] und vor allem intelligente Sichtweisen eröffnen. Will man Jörg Bernigs Schaffen in toto charakterisieren, läßt sich sagen, dass das übergreifende und zugleich grundlegende Thema seines Schreibens die menschliche Fähigkeit zur Erinnerung auf allen Ebenen ist – im existentiellen Sinn als Potential und als Bürde zugleich. Da wäre zum einen das menschliche Urbedürfnis, sich Dauer und Gedächtnis gegen die Vergänglichkeit zu verschaffen, eine Triebkraft, die Bernigs Werk selbst speist, in seiner Erzählprosa und Lyrik zugleich aber durchsichtig und anschaulich wird. Sein erster […] Roman Dahinter die Stille ist hier vielleicht sein erzähltechnisch anspruchsvollster, ein Bericht über einen Abwesenden, der nur in den Erzählungen der Leute greifbar wird: […] kunstvoll entfalten hier verschiedene Ich-Perspektiven einen facettierten Blick auf die komplexe Innenwelt der Erinnerung. Geht es in diesem schmalen Erstlingsroman noch um existentiell persönliche und soziale Dimensionen von Vergänglichkeit und Erinnerung, wendet sich Jörg Bernigs zweiter und bislang erfolgreichster Roman Niemandszeit einem geschichtspolitisch heiklen Thema zu, der Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg aus der damaligen Tschechoslowakei. In einem […] abgeschnittenen fiktiven Dorf in Grenznähe führt dieser Roman verschiedene Flüchtlinge und Verfolger gleichsam auf einer kurzfristigen Insel des Friedens zusammen, wobei sich keine einfachen Zuordnungen ergeben, sondern jede Figur vieldimensional gestaltet ist […]. Niemandszeit inszeniert in diesem vergessenen Ort die Utopie eines friedlichen Miteinanders […] inmitten von Chaos und Gewalt – zwar zerbirst diese scheinbare Idylle am Ende des Romans. Was jedoch bleibt, ist das literarische Versprechen eines möglichen gemeinsamen Neuanfangs. Bernigs zuletzt publizierter Roman, Weder Ebbe noch Flut, ist […] eine kunstvolle Variation auf Adalbert Stifters Novelle Der Waldgang. Sie erzählt die Geschichte eines Liebespaars, dessen inniger Kinderwunsch unerfüllt bleibt. Der anrührende Plot ist eingebettet in Rahmenhandlungen, die von der DDR über die Wendezeit in Leipzig bis ins akademische Milieu in Großbritannien und zurück nach Mitteleuropa, in die Landschaft Adalbert Stifters führen […]. Bernigs Grundton ist im Angesicht dieser von ihm stets angeschnittenen existentiellen, historischen und politischen Themata immer ein im besten Sinne versöhnlich realistischer – was keinesfalls verwechselt werden darf mit einer faden oder gar verlogenen Weichzeichnung grundlegender Konflikte oder Brüche. In diesem besten Sinne des Poetischen zeigen sich seine Romane ebenso wie die Gedichte und Essays produktiv fasziniert von der leidvollen, aber auch reichen gemeinsamen Geschichte der Deutschen und Tschechen in Böhmen und Mähren. Darin offenbart sich auch ein Anliegen des Autors als verantwortlicher Intellektueller: Denn offensichtlich dreht sich Bernigs Schreibprojekt […] substantiell um die Begründung und den Aufweis einer gemeinsamen mitteleuropäischen Zukunft aus einer gemeinsamen Geschichte heraus; dies verbindet er als Dichter mit dem genauen Blick auf die Dinge, Landschaften und die sie bewohnenden Lebewesen, von der Katze bis zum Menschen. Nicht pathetische Entwürfe und politische Phrasen konstituieren diesen eminent politischen Aspekt seiner Arbeit, sondern, wie es des Dichters seit jeher war, der teilnehmende Blick auf das vergängliche Geschöpf in seinem vergeblichen Rackern und Mühen auf diesem Steinklumpen, der durch das kalte Weltall saust, um in Anlehnung an den kleinen Mönch in Brechts Galilei zu sprechen. Jörg Bernigs Reichtum, nicht sein Kapital, […] ist »[e]in Sinn für das Vergängliche«, ich zitiere ihn selbst, »das ist etwas, was der ‚Zeitgeist‘ – gleich wann, gleich welcher – nicht hat. […] Er besteht auf dem Einzelnen und dessen Gefährdung, ist damit zutiefst menschlich und genau das, was wir auch heute benötigen. « Mag auch alles was besteht vergehen, wir wollen hoffen, dass uns Jörg Bernig als Schriftsteller noch lange hier erhalten bleibe, damit er an der Elbe weiter schreibe.

Dr. Ulrich Fröschle

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Ein Kommentar

  1. Dr. Zschocher
    Veröffentlicht am Mo, 21. Dez. 2015 um 19:22 | Permanenter Link

    Sehr geehrter Herr Dr. Bernig, auch ich bin Radebeuler, habe aber noch nichts von Ihnen gehört. Eine Schaufel Asche auf mein Haupt. Bis heute!!! Ihr Aufsatz in der heutigen SZ „Zorn allenthalben“ hat mich erschüttert. Selten kann ich bei Kommentaren zu 100 % zustimmen. Beim Lesen Ihres Artikels sprachen Sie die Worte aus, die in meinem Herzen ruhen.
    Ich würde mich freuen, wenn wir zu einem Gedankenaustausch finden würden.
    Mit freundlichen Grüßen
    Hartmut Zschocher

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