Zur Premiere von Lear, König am 15./16. 2. an den Landesbühnen Sachsen
Als William Shakespeare 1605 King Lear schrieb, stand er bereits in seinem fünften Lebensjahrzehnt und war ein arrivierter Dramenautor. Gemessen an dem, was man als Mensch im spätmittelalterlichen Europa als durchschnittliche Lebensdauer erwarten durfte, hatte Shakespeare sein Leben fast schon ausgekostet und damit etwas erreicht, was er vielen seiner Dramenfiguren verwehrt: das Überschreiten der Lebensmitte, die damals bei etwa 30-35 Jahren zu veranschlagen war. Auch Macht, Einfluss und Geld konnten in jener Zeit – anders als heute – Leben nicht verlängern, im Gegenteil, die englischen Monarchen des Mittelalters starben, von Ausnahmen abgesehen, früh. Grausame Kriege, tödliche Intrigen, pfuschende Leibärzte, furchtbare Seuchen – es starb sich leicht im (ausgehenden) Mittelalter. Von den zehn englischen Königen im 14. und 15. Jahrhundert (Edward II bis Heinrich VII) wurden nur drei älter als 50, nur einer älter als 60 Jahre. Und oft genug kam der Tod plötzlich. Klug beraten wäre also der Monarch gewesen, welcher, wie der Lear Shakespeares, rechtzeitig Vorsorge für den Fall seines Dahinscheidens getroffen hätte, indem er seine Nachfolge regelt und ggf. das Reich unter mehreren Nachkommen teilt, wenn nicht genau dies das überlieferte Verständnis von Königtum ausschloss: die natürliche Person geht in der politischen Person auf und ist austauschbar. Stirbt der Leib des einen Königs, verschmilzt der Leib des Nachfolgers mit der politischen Person, die unsterblich ist. Insofern setzte King Lear vor 400 Jahren ein politisches Ausrufezeichen und blieb deshalb bis in die Gegenwart zumeist ein Stück, das (nur) ein Herrschaftssystem in Frage stellt und die Endlichkeit von Macht thematisiert, was ja bis in die heutige Zeit nachbebt. Ob Elizabeth II jemals abdanken wird? Lear ist seiner Zeit weit voraus, denn er möchte wachen Sinnes und bei guter Gesundheit abtreten. Eine Haltung, die man sich von Machthabern und politischen Verantwortungsträgern heute öfter wünscht.
Die von Gastregisseur Marcelo Diaz in Szene gesetzte und von der Dramaturgin Gisela Kahl verantwortete Spielfassung (Übersetzung von Rolf Schneider) an den Landesbühnen, die damit dem 450. Geburtstag des großen Welterklärers gebührende Würdigung zuteil werden lassen, verengt jedoch nicht vordergründig auf die Darstellung von Machterhalt und Machtverlust, sondern bietet eine Lesart an, die mich sehr angesprochen hat. Die Inszenierung deutet den Generationenkonflikt aus, den die Figurenkonstellation nahe legt und liefert damit einen Kommentar zum Leben in unserer alternden Gesellschaft, indem sie der Frage nachgeht, welchen Respekt die Eltern verdienen, weil sie alt sind bzw. – noch wichtiger – obwohl sie alt sind. Damit werden plakative Schuldzuweisungen vermieden, wird das herkömmliche Klischee vom alten König, der von zwei undankbaren Töchtern enttäuscht in seinem Gram wahnsinnig und später doch hellsichtig wird, nicht bedient. Die Inszenierung an den Landesbühnen erzählt vielmehr eine Geschichte, in der ein eigensinniger, starrköpfiger und cholerischer Alter Entscheidungen fällt und Ansichten vertritt, die von der Jugend nicht gebilligt werden können. Dieser Lear ist nicht sympathisch, solange er sich König und damit mächtig dünkt. Ich fühlte mich beim Spiel Olaf Hörbes (Kompliment und Anerkennung für diese Leistung in einer seiner größten Rollen) an alte Menschen, die wir alle kennen, erinnert, die gegen jede Vernunft Ratschläge ihrer erwachsenen Kinder in den Wind schlagen und auf einem Leben beharren, das nicht mehr das ihrige sein sollte. Goneril (Julia Vincze) und Regan (Sophie Lüpfert) sind zwei pragmatische Töchter, die ihren Vater respektieren, aber nicht lieben, aber müssen sie denn das? Ihre Liebesschwüre, routiniert am Anfang des Stückes herausgepresst um der eitlen Selbstgefälligkeit des Vaters zu genügen, sind Spielarten der uns allen bekannten und gepflegten gesellschaftlichen Konventionen. Sie sind keineswegs zu verurteilen, sondern entspringen dem gleichen rhetorischen Fundus, mit dem wir uns für ein Geschenk bedanken, das uns nicht gefällt. Dagegen erscheint Cordelia (Cordula Hanns) reichlich naiv. Sie liebt ihren Vater, ja, will aber lieber Taten sprechen lassen als Worte drechseln. Soweit, so schlecht. Denn mit Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit kann sie das väterliche Ego nicht streicheln und wird zwangsläufig vom Erbe ausgeschlossen. Der Ehrliche ist der Dumme, das wusste Shakespeare lange vor Ulrich Wickert.
Die Parallelhandlung, die dem Stück eingewoben ist, transportiert den Generationenkonflikt über die klassisch zu nennende Frage, inwieweit die Umstände der Geburt eines Menschen Macht ermöglichen oder von Macht ausschließen. Der Graf von Gloster (Michael Heuser) hat zwei Söhne, Edgar (Grian Duesberg) und Edmund (Michael Berndt), letzterer unehelich. Mit Intrigen und falschen Briefen gelingt es Edmund, den Vater gegen Edgar aufzubringen, weshalb dieser fliehen und unter falscher Identität leben muss. (Wer da an das Brüderpaar Karl und Franz Moor aus Schillers „Räuber“ denkt erahnt, dass auch Schiller sich am englischen Titan abarbeitete.) Dass sich beide Handlungsstränge am Ende vereinen; dass im Grafen von Kent (als Gast: Frank Siebers) eine edle, sich selbst verleugnende Figur auftritt, die unbedingte Treue und Loyalität zu Lear bis in den Tod hinein lebt; dass die Entscheidung, den Narren und Cordelia als eine Figur zu deuten, nur als theoretisches Konstrukt greift (denn Cordelia ist nach Frankreich verheiratet worden und kann gar nicht der Narr sein, der mit Lear durch das südliche England irrt); dass die Herzöge von Cornwall (Mario Grünewald) und Albany (Matthias Henkel) in ihrer Gegensätzlichkeit das ungleiche Brüderpaar Edmund und Edgar auf ihrer gesellschaftlichen Ebene aufschlussreich spiegeln; dass Johannes Krobbach in vielfältigen Verwandlungen fünf kleinere Rollen verkörpert sei der Vollständigkeit halber erwähnt.
Zum insgesamt gelungenen Abend trägt die suggestive Wirkung entfaltende musikalische Untermalung (Sebastian Undisz) bei, mit Abstrichen auch die Ausstattung von Ulrike Kunze. So angemessen und praktisch die insgesamt sparsame Bühnendekoration mit einem optisch sehr ansprechenden Metallvorhang im Bühnenhintergrund ist, so fragwürdig bleibt die Maskerade der Bewaffneten in martialischen Schutzanzügen à la GSG 9, so unmotiviert wirkt der Arzt in seiner Warnweste, so befremdend erscheint die russische Fellmütze Glosters. Alle anderen Kostüme versinnbildlichen in ihrem dezenten Chic zumeist geschmackvolle Zeitlosigkeit und vermeiden jede überflüssige Aktualisierung. Im Zusammenspiel von Regie und Ausstattung gelingen der Inszenierung große Momente, von denen hier stellvertretend drei genannt sein sollen. Eindrucksvoll, wie in dem Augen-Blick, da Gloster sein Augen-Licht verliert, das Bühnenlicht erlischt und das Publikum so im Dunklen sitzend plötzlich zu einem kollektiven Gloster wird. Berührend, wie nach dem famosen Bühnensturm (zurecht von Intendant Schöbel in seiner Premierenansprache gelobt) der irre Lear, der von ihm verstoßene, aber unter anderer Identität auftretende Gefolgsmann Kent, der Narr und der als buckliger Irrer getarnte Edgar unter einer Decke sitzend dem Nichts entgegenstarren. Gestrandete einer Nacht, die keinen so entlässt, wie er in sie hineinging. Fabelhaft, mit welcher zum Bersten gespannten Zerrissenheit Edmund sich nach dem Sieg über die Franzosen in Champagner die Hände wäscht, als ein dekadenter Pontius Pilatus, der nämlich ahnt, dass auch auf ihn Golgatha wartet.
Dass der Beifall des Publikums zwar lang anhaltend, aber nicht euphorisch war, mag auch der Verwendung von zuviel Theaterblut und dem Einbezug umständlicher Kampfszenen geschuldet gewesen sein. Wenn man jedoch davon absieht und wahrnimmt, dass hier ein großer Stoff der Weltliteratur im Ganzen schlüssig und mit heutigen Mitteln übersetzt wird, dann verdient diese Inszenierung weiterhin gut besuchte Aufführungen über diese Spielzeit hinaus.
Bertram Kazmirowski
(in Radebeul wieder am 13.März)