Zum 80. Geburtstag des Schriftstellers
Das Linkselbische liegt zwar in Sichtweite, aber der trennende Fluss hält uns auf Abstand. Grund genug, dem nahen und zugleich fernen Landstrich nachzuspüren – mit einem realen Besuch. Wer einen anderen oder ergänzenden Zugang zur jenseitigen Landschaft sucht, der möge im umfangreichen und nicht nur lyrischen Werk von Wulf Kirsten lesen.
Wulf Kirsten wurde am 21. Juni 1934 in Klipphausen geboren. Nach Tätigkeiten im kaufmännischen Bereich und sogar als Bauarbeiter verließ er erst 1957 den „häuslerwinkel“ seines Heimatdorfs, wobei er selbst den Begriff Heimat eher meidet – trotz aller gedanklichen Verwurzelung im ehemaligen Zuhause, um in Leipzig nach dem Abitur ein Pädagogik-Studium in den Fächern Deutsch und Russisch zu absolvieren.
Während der Leipziger Studienzeit bot ihm die „Deutsche Bücherei“ die Möglichkeit, sich erstmals umfassend in das gesamte verfügbare literarische Schaffen einzulesen. Sicher ein deutlicher Zugewinn für sein späteres Schreiben. Ein weiterer wichtiger Baustein dafür war das „Wörterbuch der obersächsischen Mundarten“, für das er während der Studienzeit mehr als 1000 Belege sammelte, von denen uns oft Bespiele in seinen Gedichten begegnen.
Nach dem Studium arbeitete er nur kurz als Lehrer. 1965 wurde er Lektor beim Aufbau- Verlag in Weimar und lebt seither dort. In dieser Zeit begann sein eigentliches Schreiben, auch im fruchtbaren Austausch mit schon namhaften Autoren. Seit 1987 ist er freier Schriftsteller und Herausgeber.
Es ist kaum möglich, hier die Fülle seiner Arbeiten – Gedichte, Prosa, Reden, Aufsätze oder Beispiele seiner Herausgebertätigkeit – aufzulisten. Gleiches gilt für die mehr als 20 Literaturpreise und Auszeichnungen, mit denen man sein Werk würdigte.
Deshalb sollen hier eher die sächsischen Bezüge beleuchtet werden, die sein Schaffen ein ganzes Leben geprägt haben. Während der Kindheits- und Jugendjahre hat er sich in besonderer Einfühlsamkeit seine Heimatregion in all ihren Facetten angeeignet. Diese Eindrücke und Erkenntnisse aus dem Linkselbischen sind – wie er sagt – „pars pro toto“, ein unverrückbares Fundament seiner Landschaftsbetrachtung, und um Landschaft geht es fast immer: Landschaft in ihrer enormen Vielschichtigkeit, um ihrer selbst willen, aber auch als Metapher.
Kirsten hat sich immer wieder mit dem Landschaftsbegriff auseinandergesetzt. So sagt er etwa: „Meine Landschaft baut auf ein dicht verwobenes Geflecht, das auf Landschaftskunde, Landschaftsgeschichte gründet und dabei auch Naturgeschichte einbezieht. Bedeutsamer sind mir die historischen Schichten, die ihr aufliegen. Ebenso die sozialen Strukturen, ausgehend von der Siedlungsgeschichte. Eng damit verknüpft sind Bewohnbarkeit, Architektur, Agrargeschichte im zivilisatorisch-kulturellen Prozess. Davon abgeleitet Flächennutzungsmöglichkeiten Bodenbeschaffenheit und schließlich als moderne wissenschaftliche Errungenschaft das weite Feld der Ökologie, die bewusst gemacht hat, wie leichtfertig die Existenz der menschlichen Spezies zunehmend auf Selbstvernichtung zusteuert.“ Man sollte hinzufügen, dass auch der jeweils vorgefundenen Pflanzenwelt seine besondere Hinwendung gilt.
Aus diesem Verständnis heraus betrachtet und beschreibt er Landschaft, immer geleitet von den Erfahrungen mit seinem Linkselbischen.
Mit großer Detailtreue verdichtet er Landschaft in seiner ganz eigenen lyrischen Sprache, die bewusst „körnig“ und spröde sein soll. Er will Landschaft poetisieren, nicht romantisieren. Das setzt innere Distanz zum Sujet voraus, die aber erst gewonnen werden muss. Wer sich über mehr als 60 Jahre immer wieder mit demselben Gegenstand befasst, muss eine tiefe innere Bindung zu ihm haben. Man könnte auch von ungebrochener Landschaftsliebe reden. Unbeteiligt bleibt er, der „Landschafter“ jedenfalls nie.
Der erstmals 1970 erschienene Lyrikband „erde bei meißen“ umfasst zahlreiche Gedichte, die dem Linkselbischen gelten – so etwa „schloß Scharfenberg“ oder „klosterruine Altzella“, aber ebenso der anderen Elbseite gewidmet sind: „selbdritt durch die Lößnitz“, um nur einige Beispiele zu nennen.
Auch später beschäftigt ihn – längst in Thüringen zu Hause – seine Herkunftsregion. 1999 entstand das „große randseil“ – eine Betrachtung des Linkselbischen von Radebeul aus. Das Gedicht entstand in seiner Zeit als Stadtschreiber von Dresden in Zusammenarbeit mit dem leider zu früh verstorbenen Werner Wittig, und es heißt darin: …kirchtürme von der sonne ins land gestaucht, erinnerungspunkte, überelbisch gesetzt, die mir nachhelfen wollen, hinaufzukommen und hinweg über das große randseil, wenn ich nur wüsste, wer das flußband so benannt hat vorzeiten …
2000 erschienen unter dem Titel „Die Prinzessinnen im Krautgarten“ seine Kindheits-erinnerungen aus den letzten Kriegsjahren, die zugleich ein Stück Heimat- und auch Landschaftsgeschichte von Klipphausen festhalten. Nur wenige Beispiele aus seinem Werk.
Sein für uns wohl wichtigstes Verdienst ist es, einen eher „unberühmten“, aber uns nahen Landstrich zu poetisieren und ihm damit einen besonderen Wert zu verleihen.
Dafür ist ihm zu danken, und es bleibt, ihm zu seinem 80. Geburtstag alles Gute zu wünschen
und noch viele gesunde Jahre – auch für sein weiteres lyrisches Wirken, das sein Fundament im Linkselbischen hat und uns bereichert.
Dr. Ulrike Schaksmeier