Huch – wer war denn das?

Dies sollte ein deutscher Frauentag sein, und mehr als ein deutscher. Denn nicht nur die erste Frau Deutschlands ist es, die man zu feiern hat, es ist wahrscheinlich die erste Europas.
Mit diesen Sätzen begann Thomas Mann 1924 seine Würdigung der Dichterin und Philosophin Ricarda Huch aus Anlaß ihres sechzigsten Geburtstages.
Eine Dichterin also war es, eine Philosophin und keine Sprinterin oder Fußballerin, die Mann seinerzeit zur ersten Frau Europas kürte und diesen Rang ausdrücklich auch auf ihre Weiblichkeit bezog. Es ist nämlich – und das mag es gewesen sein, was den Hochgeistigen so hoch begeisterte – kein Widerspruch zwischen Geist und Weiblichkeit, im Gegenteil.

Die am 18. Juli 1864 in Braunschweig geborene Ricarda Octavia Huch hatte es nach dem Abitur 1888 zum Studium der Geschichte, Philosophie und Philologie nach Zürich gezogen, denn Deutschland war noch weit davon entfernt, Frauen an Hochschulen auch nur zu dulden. Als eine der ersten Frauen promovierte Ricarda Huch 1891 über ein historisches Thema.
Erste Gedichte erschienen noch unter Pseudonym, doch bald schon veröffentlichte sie Dramen und Erzählungen unter ihrem eigenen Namen. Sie arbeitete als Bibliothekarin und Lehrerin und ließ sich 1897 als Schriftstellerin in Wien nieder.

Aus ihrer ersten Ehe mit einem italienischen Zahnarzt ging eine Tochter hervor, die in späteren Jahren eine wichtige Bezugsperson für sie wurde. Nach ihrer Scheidung heiratete sie mit Richard Huch ihren Schwager und Cousin und die große Liebe ihrer Jugend. Doch auch diese Ehe endete nach großer Enttäuschung mit einer Scheidung.
Seit dem ersten Weltkrieg, den zu feiern sie nie in Versuchung geriet, arbeitete sie kaum noch belletristisch, sondern widmete sich ganz historischen und religionsphilosophischen Themen. Doch auch ihre wissenschaftlichen Arbeiten gerieten zu literarischen Kunstwerken großer Schönheit. In der Charakterstudie Wallenstein etwa stellte sie 1915 dessen Persönlichkeit als exemplarisch für den Geist der Epoche dar.

Ricarda Huch wurde 1924 Ehrensenatorin der Universität München. Im Frühjahr 1933 verließ sie aus Protest gegen die Ausgrenzung jüdischer Kollegen die Berliner Akademie der Künste.
In ihrem Jenaer Wohnhaus entstand sehr bald ein philosophischer Stammtisch, der mit dem Widerstand gegen das Regime sympathisierte. Nur durch Zufall entging ihr Schwiegersohn der nach dem 20. Juli 1944 einsetzenden Verfolgungs- und Ermordungswelle.
Nach Kriegsende nahm sie noch einmal hoffnungsvoll an den Bemühungen zur demokratischen Erneuerung Deutschlands teil. Doch bald schon spürte sie das erneute Erstarken totalitärer Tendenzen. Sie verließ Jena. Doch die Strapazen der Reise zu ihrer Tochter nach Frankfurt/M. kosteten sie ihre Lebenskraft. Ricarda Huch starb am 17. November 1947 in Schönberg im Taunus.

Ein paar Daten können das Wesen einer Persönlichkeit nicht erhellen. Ebenso wenig vermag dies die lange Liste der Publikationen, für die hier der Raum nicht ist. Mit ihrem zweibändigen Werk zur Romantik hat sie ein Bekenntnis und einen Weg zur Erneuerung ihrer Epoche gegeben. Denn der Anspruch der Romantik besteht nicht in der verklärten und verklärenden Betrachtung des Mondes, sondern in stetiger geistiger Erneuerung – ein Anspruch mithin, der, wie die Gegenwart beweist, die das schon gar nicht mehr versucht, wiederkehrendes Scheitern in sich birgt.
In einer gleichfalls 1899 erschienenen Erzählung hat sich Ricarda Huch mit dem mittelalterlichen Gedicht Der Arme Heinrich beschäftig. Ihre Neuinterpretation zählt neben Gerhart Hauptmann gleichnamigem Drama von 1902 zu den literarisch bedeutendsten Bearbeitungen dieses Themas.

Dass die einst gefeierte Dichterin heute weitgehend vergessen ist, zeugt nach Reich-Ranicki …von dem gebrochenen Verhältnis der Deutschen zur besten deutschen Literaturtradition.
Unser Versuch, ihre Erzählung vom armen Heinrich mittels einer Lesung im Hohenhaus vor dem völligen Vergessen zu bewahren, hat sich im ersten Anlauf als zu romantisch erwiesen. Einen zweiten Versuch werden wir vielleicht im Herbst unternehmen – dann haben wenigstens die Vorschau-Leser den Namen Ricarda Huch wieder verinnerlicht – den Namen einer Frau, die für Thomas Mann als erste Frau Europas einen Superlativ wert war.

Thomas Gerlach

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