Dass 1645 zu Kötzschenbroda der Waffenstillstand zwischen Sachsen und Schweden im Dreißigjährigen Krieg unterzeichnet wurde, ist allgemein bekannt. Anders steht es um ein Ereignis, das sich elf Jahre zuvor hier zugetragen hatte und von manchen Zeitgenossen ebenfalls, aber reichlich verfrüht mit dem bevorstehenden Ende der sächsisch-schwedischen Auseinandersetzungen in Verbindung gebracht wurde. Am 13. März 1634 früh um 8 Uhr sichtete man in der Nähe der Dresdner Elbbrücke einen Seehund. Nach Lage der Quellen war es die überhaupt erste dokumentierte Beobachtung eines solchen Exoten in Sachsen – eine kleine Sensation, die dementsprechend größte Aufmerksamkeit erregte. Eine ganze Woche lang wurde das arme Tier immer wieder bestaunt und gejagt, bevor es am 20. März zufällig einigen Fischern in Höhe der so genannten Pfarrstücke am Kötzschenbrodaer Tännicht ins Netz ging. Da sich der Seehund erbittert wehrte, wurde er erschlagen und später nach Dresden gebracht und ausgestopft. Es handelte sich um ein ausgewachsenes weibliches Tier von 152 Pfund (gut 70 kg), ca. 2,75 Ellen oder anderthalb Meter lang. Beim Präparieren kam im Speck eine Gewehrkugel zum Vorschein und im Magen elf noch unverdaute Barben.
In der abergläubischen Zeit konnte es nicht fehlen, dass einem Ereignis wie diesem eine tiefere Bedeutung beigelegt wurde; auch für den Seehund war der scheinbar passende Deutungszusammenhang bald gefunden. 1635 wechselte Kurfürst Johann Georg mit dem Prager Frieden zur kaiserlichen Kriegspartei, was von den protestantischen Glaubensgenossen aus Schweden als Verrat gewertet wurde. Ende 1636 holte »der schwedische Löwe« Feldmarschall Johan Banér zur Rache aus, setzte sich in Torgau fest und überzog von dort aus ganz Kursachsen mit einer Welle von Gewalt und Verwüstung. In dieser Situation erinnerte sich ein Sternenfreund an den Kötzschenbrodaer Seehund und publizierte Anfang 1637 in Leipzig eine kleine Schrift, in der das Erscheinen des Tieres, das ja auch aus dem Norden kam, als Vorbote des schwedischen Einfalls betrachtet wurde. Damit nicht genug, weissagte der pseudonyme Autor Astrophilus Christianus, dass der Schwede sieben Monate im Land bleiben würde (so wie der Seehund sieben Tage), aber trotz aller Finten und aller Beweglichkeit, die General Banér (wie der Seehund) an den Tag legte, endlich doch gefangen und totgeschlagen werden würde. Hatte der Seehund elf Fische im Bauch, würden den Sachsen elf schwedische Regimenter samt ihren Obristen zur Beute werden. Zu Johannis Baptistae (7. April), spätestens aber »vmb Jacobi«, also Ende Juli 1637 sei der sächsische Sieg zu erwarten…
Das bei Gregor Ritzsch in Leipzig gedruckte Heftchen vom »Schwedischen See-Hund« fand offenbar reißenden Absatz; schnell musste eine zweite Auflage her – die Sachsen wollten gern an den für sie günstigen Ausgang glauben. Doch es kam ganz anders. Pünktlich zu Johann Baptist legte General Banér in der »Kreuz- und Marterwoche« Wurzen in Schutt und Asche. Schon am 14. März 1637 hatten die Kötzschenbrodaer Bauern Feuer, Schwert und »Schwedentrunk« zu kosten bekommen und nach ihnen dann noch viele andere. Der »schwedische Löwe« starb erst 1641, zwar, wie der Seehund, fern der Heimat und zuletzt gejagt, aber ungeschlagen.
Die Erinnerung an den sagenhaften Seehund von Kötzschenbroda, der mehrfach im Bild festgehalten worden war, lebte geraume Zeit fort. Noch 1729 bat der Kötzschenbrodaer Pfarrer Kaspar Aster in Dresden um die Kopie eines damals im Marstall befindlichen Seehundgemäldes, die die Gemeinde gegen Entrichtung der Herstellungskosten von 14 Talern auch erhielt. Leider wurde dieses verspätete Souvenir 1858 bei der Renovierung des Pfarrhauses unwiederbringlich zerstört. Der ausgestopfte Seehund selbst, der zunächst in der kurfürstlichen Kunstkammer aufgestellt worden war und später ins Naturalienkabinett gelangte, wo ihn 1790 auch Geheimrat Goethe noch persönlich in Augenschein nahm, ist spätestens beim Brand des Dresdner Zwingers 1849 vernichtet worden. Wenigstens zwei der zeitgenössischen Abbildungen des Tieres haben sich aber erhalten, eine farbige Zeichnung im Verzeichnis der Jagdtrophäen Johann Georgs I. sowie ein Ölgemälde, das seinen Platz an der Decke des kurfürstlichen Schlafzimmers im 1650/51 errichteten Lust- und Berghaus der Hoflößnitz fand, wo es bis heute zu besichtigen ist.
Nach 1634 haben es übrigens noch mindestens vier weitere Vertreter der Gattung Phoca vitulina in der Elbe bis nach Sachsen geschafft. 1802 wurde wieder in Kötzschenbroda einer beobachtet, 1813 einer in Reinhardtsdorf (Sächsische Schweiz), 1893 wurde bei Strehla einer gefangen, und 1975 soll bei Schöna der bislang letzte »sächsische« Seehund gesichtet worden sein.
Frank Andert