Viktor Timtschenko im Kultur-Bahnhof in Radebeul

„Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen, als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten weit in der Türkei die Völker aufeinander schlagen.“, so lässt Goethe im „Faust“ die biederen Bürger während ihres Osterspaziergangs sprechen. Das Aufeinanderschlagen der Völker ist uns inzwischen beängstigend nahe gerückt. Die Berichte aus der Ukraine sind verwirrend und wecken widerstreitende Empfindungen. Die pathetische Beschwörung des Heimatbodens ist aus dem Mund der Regierung in Kiew ebenso zu vernehmen wie von den russischen Separatisten im Osten. Ein grundsätzliches Unbehagen an der Entwicklung in der Region wird für die Radebeuler erweitert um die konkrete Sorge für das Wohlergehen der Partner und Freunde in der ukrainischen Partnerstadt. Der letzte Transport mit Hilfsgütern erreichte Obuchiv im vergangenen September. Vor diesem Hintergrund wurde ein Gast mit ukrainischen Wurzeln zur Veranstaltung im Kultur-Bahnhof in Radebeul am 6. Februar mit besonderer Spannung erwartet.

Foto: S. Hennig

Foto: S. Hennig

Im Jahr von Stalins Ableben wurde Viktor Timtschenko in Barwinkowe geboren. Die Einwohnerzahl dieser Kleinstadt war in Folge des Weltkriegs nahezu um die Hälfte zurückgegangen. Erst in den letzten Jahren ist sie wieder so stark angewachsen, dass Timtschenko die Genugtuung hatte, das Wikipedia-Wissen des Moderators über seine Geburtsstadt fast um die doppelte Anzahl berichtigen zu dürfen. Seit 1990 lebt er in Leipzig, war als Redakteur für die Deutsche Welle tätig und hat Bücher veröffentlicht, über den Nationalisten Schirinowski, das Russland der Jelzin-Zeit, den Oligarchen Chodorkowskij sowie „Putin und das neue Russland“.

Der Abend beginnt mit einer kurzen Lesung aus seinem 2009 im Christoph-Links-Verlag erschienenen Buch „Ukraine. Einblicke in den Osten Europas“. Danach werden Fragen aus dem Publikum beantwortet. Die zielen verständlicherweise auf die aktuelle Situation. Timtschenko berichtet, dass vom Krieg außerhalb der umkämpften Gebiete gar nichts zu merken ist. Im seiner Heimatstadt nahegelegenen Slowjansk wechselte im Weltkrieg sechsmal die Besatzung. Vergangenes Jahr wurde die Stadt abermals heftig umkämpft. Anhand der eigenen Familie setzt der Autor die verschlungenen ethnischen und nationalen Verhältnisse auseinander. Sein älterer Bruder wurde auf dem Territorium der russischen Sowjetrepublik geboren, er dagegen auf dem der ukrainischen. Kinder der gleichen Eltern tragen nun verschiedene Staatsbürgerschaften. Im sozialistischen Riesenreich vom Amur bis an die Memel ist das völlig bedeutungslos gewesen. Auch für ihn hätte dessen Stabilität lange Zeit nicht in Frage gestanden. Während einer Auszeichnungsreise ins Baltikum hätte er durch einen jungen Letten das erste Mal einen Zweifel am Gefüge des multinationalen Imperiums zu hören bekommen. Die heutige Zuspitzung lässt sich nur aus dieser Vergangenheit verstehen. Die urbanen Agglomerationen der Ostukraine bildeten sich um die Standorte von Bergbau und die Metallurgie. Viele Arbeitskräfte aus Russland haben sich dort angesiedelt. Auf die Frage nach dem Nationalhelden Bandera erläutert er geduldig die Zeitumstände und gibt zu bedenken: „Jede historische Gestalt ist weder schwarz noch weiß.“ So äußert er auch Verständnis, einerseits für die Polen und Esten, aber ebenso für die Russen, die mit der Ausbreitung der Nato konfrontiert sind. Die Loyalität gegenüber Putin ist allein nachvollziehbar durch die grausamen Abgründe, in welche die vorangegangene Jelzin-Zeit die Menschen gestürzt hat. Den gegenwärtigen Sanktionen gegen Russland schreibt Timtschenko sogar eine belebende Wirkung zu für die Entwicklung des Landes. Bislang hätte jede unternehmerische Initiative in den Energiesektor gedrängt. Nun sind Anreize entstanden um andere lebenswichtige Industrien auszubilden, wodurch die wirtschaftliche Autarkie des Landes gestärkt wird.

Von den düsteren Seiten abzulenken gelingt Radebeuls Städtepartnerschaftsbeauftragter Gulnara Gey mit ihrer Frage nach der Liebe. Sie veranlasst den Autor darüber zu berichten, wie er seine Frau kennenlernte. Die jungen Leute gehörten einer internationalen Studentenbrigade an, die mit der Errichtung eines Milchwerkes in Kiew beschäftigt war. Bevor sie 1975 heirateten waren zahlreiche bürokratische Schikanen zu überwinden. Aus dem Bericht darüber
blitzt jener Sarkasmus hervor, der in Sowjetzeiten überlebenswichtig war. Einen gewissen Humor erfordern auch die heutigen Umstände. Viktor Timtschenko bedankte sich bei seinem Radebeuler Publikum für dessen gescheite Fragen, die ihm den Bericht erleichtert haben. Der Abend war von der Bemühung um Ausgleich und durch ein Abwägen der Tatsachen bestimmt, so wie es sich alle Anwesenden auch vom weiteren Geschehen in der Ukraine erhoffen.

Sebastian Hennig

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