Radebeul-Ost macht Dampf und Radebeul-West macht mobil

Ein Beitrag zur städtischen Alltagskultur

Wer kennt ihn nicht, den Spruch der Alten „Früher-war-alles-besser“, welchen die genervten Jungen mit „Na und? Heute ist es doch auch ganz schön!“ kontern.

Der 80. Stadtgeburtstag von Radebeul bietet Anlass, um einmal etwas intensiver über das Gestern, Heute und Morgen der innerstädtischen Alltagskultur nachzudenken. Als zu Beginn des Jahres 1935 die Zwangsehe zwischen den Städten Radebeul und Kötzschenbroda vollzogen wurde, war zunächst einiges doppelt vorhanden: Rathäuser, Hauptstraßen, Stadtzentren… Während das Niederlößnitzer Rathaus mehrere Nutzungsänderungen wie Verwaltungsstandort, Kinderkrippe, Standesamt und Musikschul-Außenstelle erfuhr, blieb das Radebeuler Rathaus immer das, was es war, aber nunmehr für alle Alt- und Neuradebeuler. Ähnlich verhielt es sich mit den Hauptstraßen. So wurde die Kötzschenbrodaer Hauptstraße, welche rund um den alten Dorfanger führte, 1935 in Altkötzschenbroda umbenannt. Die Radebeuler Hauptstraße, ein ursprünglicher Viehweg, hieß ab 1933 Hindenburgstraße und ab 1945 Ernst-Thälmann-Straße bis schließlich 1991 die Rückbenennung in Hauptstraße erfolgte. Die innerstädtischen Zentren haben sich jedoch bis heute als Doppelpack erhalten, was bei einer so lang gestreckten Stadt wie Radebeul durchaus sinnvoll erscheint. Beide Zentren verfügen nach wie vor über eine kleinteilige und vielfältige Einzelhandels- und Dienstleistungsstruktur, was analog der Weinbergsmauern zum erhaltenswerten Kulturgut erklärt werden sollte.

Radebeul-Ost im Jahr 2015: Kulturterrassen und altersgerechtes Wohnen im Zentrum Foto: K.Baum

Radebeul-Ost im Jahr 2015: Kulturterrassen und altersgerechtes Wohnen im Zentrum
Foto: K.Baum


Hoch spannend wäre es nun zu vergleichen, wie sich beide Zentren in den letzten acht Jahrzehnten entwickelt haben. Die Leser mögen Verständnis dafür zeigen, dass es sich bei diesem Beitrag um keine fachlich fundierte Analyse handeln kann. Ein paar Gedankenspielereien seien dennoch erlaubt. Für eine Große Kreisstadt mit nahezu 34.000 Einwohnern nehmen sich sowohl das eine als auch das andere Einkaufszentrum ein wenig bescheiden aus. Glaubt man der Presse, so leben in Radebeul über 200 Millionäre. Lässt man diese einmal außer acht, ist die Kaufkraft des Durchschnitts-Radebeulers immer noch recht beträchtlich. Die wenigen Einzelhändler könnten sich also glücklich preisen.
Blick in die Bahnhofstraße um 1900 Foto: Stadtarchiv

Blick in die Bahnhofstraße um 1900
Foto: Stadtarchiv


Aber mit dem Glück ist das so eine Sache. Die älteren Radebeuler werden sich an Zeiten erinnern, da pulsierte das Leben in beiden städtischen Zentren. Die Fahrt nach Dresden war ein seltener Höhepunkt. Die Waren des täglichen Bedarfs kaufte man vor Ort im Wohngebiet. Gekauft wurde, was das Angebot hergab und immer nur so viel, was man aus eigener Kraft im Dederonbeutel oder Einkaufsnetz nach Hause tragen konnte bzw. was an den Fahrradlenker und auf den Gepäckträger passte.
Begriffe wie „Discounter“ oder „Supermarkt“ waren bis 1990 weitgehend unbekannt. Im Vergleich dazu verfügten selbst die Kaufhäuser und Kaufhallen von HO und Konsum nur über einen Bruchteil an Fläche. Eine Zäsur für den Handel brachte auf dem Terrain der Neuen Bundesländer der gesellschaftspolitische Umbruch. Die meisten Betriebe, welche sich im unmittelbaren Umfeld der innerstädtischen Zentren befanden, gab es plötzlich nicht mehr und damit brach auch ein Großteil der potentiellen Kundschaft weg, die in schöner Regelmäßigkeit nach Arbeitsschluss in die Geschäftsstraßen strömten. Die Ableger von Handelsketten aus den Alten Bundesländern schossen auf der „grünen Wiese“ wie Pilze aus dem Boden und lockten mit vielfältigsten Warensortimenten, niedrigen Preisen und kostenlosen Parkplätzen die nunmehr motorisierte Kundschaft in ihre Einkaufstempel.
Einkaufserlebnis in der DDR, Obst- und Gemüsestand auf der Moritzburger Straße Foto: Stadtarchiv

Einkaufserlebnis in der DDR, Obst- und Gemüsestand auf der Moritzburger Straße
Foto: Stadtarchiv


Doch all diese Erkenntnisse haben zu keiner Veränderung der Situation in den städtischen Zentren geführt. Mit dem Schlachtruf „Radebeul-Ost macht Dampf“ ließ man den kontroversen Diskussionen Taten folgen. Dank Sanierungsgebiet wurden die Voraussetzungen geschaffen, um das Zentrum von Radebeul-Ost und den historischen Dorfkern städtebaulich und funktional aufzuwerten. Das ist den Machern gut gelungen. Kein Geschäft steht leer. Nahezu jede Baulücke ist gefüllt. Die Fassaden strahlen farbenfroh. Die Verwaltung wurde konzentriert, der Boulevard mit Einkaufspassagen, REWE-Markt und Parkhaus erweitert. Gaststätten und Cafés laden zum Verweilen ein. Das ehemalige Bahnhofsgebäude wurde zum Kultur-Bahnhof mit Erlebnisbibliothek, Volkshochschule und Veranstaltungshalle ausgebaut. Die vorgelagerten Kulturterrassen, der Bürgerpark im Rathausareal und der preisgekrönte Spielplatz im alten Dorfkern sind als erholsame Treffpunkte für Alt und Jung geeignet. An Kindergärten, Schulen, Museen, altenbetreuten Wohnungen, medizinischen Einrichtungen, öffentlichen Nahverkehrsmitteln und Toiletten (alles barrierefrei zugängig) herrscht kein Mangel. Baulich gibt es nicht mehr viel zu tun. Fazit: Radebeul-Ost präsentiert sich im Jahr 2015 modern, sauber und aufgeräumt.
Radebeul-West im Jahr 2015: Wo einst die Fisch-Regina residierte... Foto: K. Baum

Radebeul-West im Jahr 2015: Wo einst die Fisch-Regina residierte…
Foto: K. Baum


Radebeul-West hingegen wirkt ein wenig morbid, so als wäre die Zeit stehen geblieben. Zahlreiche Geschäfte stehen leer. Freie Flächen sind mit Plakaten zugeklebt. Die Haupt-Einkaufsachse wird mehrfach vom Schwerlastverkehr durchschnitten. Plätze zum Verweilen sind rar. Nicht nur das einstige Bahnhofsgebäude verfällt. Die Stimmung ist durchwachsen. Noch ist es aber nicht zu spät. Die Händlergemeinschaft und das Bürgeraktiv von Radebeul-West nehmen die Herausforderung an und wollen ab sofort aktiv Einfluss nehmen auf die künftige Entwicklung ihres Stadtgebietes. Mit Humor, Pragmatismus und alternativen Ideen soll versucht werden, für den innerstädtischen Zentrumsbereich wieder Interesse zu wecken.
Hörgeräte werden immer wichtiger Foto: K. Baum

Hörgeräte werden immer wichtiger
Foto: K. Baum


Erstmals will man sich unter dem Motto „Radebeul-West macht mobil“ zum Frühlingsspektakel am 11. April im Stadtteilzentrum Radebeul-West gemeinsam auf eine ungewöhnliche Entdeckungsreise begeben und auf die Vielfalt des Vorhandenen aufmerksam machen. Über 40 Geschäfte werden von 10 bis 16 Uhr auf der Bahnhofstraße, Moritzburger Straße und Meißner Straße an diesem Tag geöffnet sein und die Veranstaltung mit eigenen Sonderaktionen bereichern. Leer stehende Räume erfahren eine temporäre Belebung. Darüber hinaus wird ein abwechslungsreiches Programm mit Stadtteilführungen, Straßenmusik, Ausstellungen, Film und Theater geboten.

In besonders gekennzeichneten Geschäften befinden sich Wunschbriefkästen. Hier können die Bürger ihre Wünsche bezüglich Öffnungszeiten, Sortimentserweiterung, Service, Kreativpatenschaften, Parksituation, Stadtmöbilierung, öffentliche Toiletten, Anschlagtafel, Begrünung usw. äußern. Dabei gilt es herauszufinden, was kurz-, mittel- und langfristig getan werden muss, damit dieser traditionsreiche Zentrumsbereich trotz schwieriger Rahmenbedingungen mit all seinen wichtigen Funktionen für die Bürger von Radebeul erhalten bleibt.

Bereits in der Vor-Oster-Woche erfolgt durch die Stadtverwaltung eine „Frühlings-Blumen-Pflanz-Aktion“. Zusätzlich werden Sitzbänke aufgestellt und Schüler der Kötzschenbrodaer Oberschule schmücken ihre Stadt.
Alle Radebeuler sind also herzlich zum Frühlingsspektakel eingeladen. Flyer mit dem kompletten Programm sind ab Anfang April im Rathaus, im Kulturamt, in der Stadtgalerie, in den Bibliotheken, im Familienzentrum, in der Tourist-Information und bei allen Mitwirkenden in Radebeul-West erhältlich.

Parallel zum Frühlingsspektakel finden in Altkötzschenbroda vom 10. bis 11. April die 15. Langen Kultur- und Kneipennächte unter dem Motto „Kneipen, Kunst und Kocktails“ statt. Gestartet wird am Freitag um 18 Uhr vor der Heimatstube. An beiden Tagen haben einige Läden in Altkötzschenbroda bis 20 Uhr geöffnet. Ab 20 Uhr werden dann in den Kneipen verschiedene Bands spielen. Der Dorfanger verwandelt sich am Samstagabend in den längsten Laufsteg von Radebeul mit Modepräsentationen von Profis und Laien. Das schrägste Kocktail-Outfit kann eine Kocktail-Flatrate gewinnen.

Dass beide Aktionen an einem Wochenende stattfinden, ist kein Zufall. Die Händlergemeinschaft Radebeul-West und die Kultur- und Werbegilde Altkötzschenbroda wollen künftig enger zusammenarbeiten und ihre jeweiligen Veranstaltungshöhepunkte gegenseitig bewerben. Angestrebt wird auch eine bessere Kommunikation zwischen allen Radebeuler Ursprungsgemeinen, denn Radebeul besteht nicht nur aus den Zentren Ost und West. Die Redaktion des kulturellen Monatsheftes „Vorschau und Rückblick“ wird dieses identitätsstiftende Anliegen unterstützen.

Karin Baum

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