Zur Premiere von „Wie im Himmel“ am 1. Mai 2015 in den Landesbühnen
Zugegeben, ich war etwas skeptisch gewesen. Die Dramatisierung eines erfolgreichen Filmes birgt stets die Gefahr, dass die Macht der abgespeicherten Bilder eine vorurteilsfreie Aufnahme des Spiels behindert. Aber wie sich erwies, war meine Sorge unbegründet. Die letzte große Schauspielproduktion Wie im Himmel, mit der die Landesbühnen Sachsen das erste Maiwochenende einläuteten, wurde zu einem beachtlichen Erfolg. Sie erfordert von den Zuschauern den empathischen Blick auf Menschen und deren Sehnsucht nach einem sinnerfüllten und glücklichen Leben. Und weil sich der Großteil des Premierenpublikums offenbar in den Figuren auf der Bühne erkennbar gespiegelt sah, die Schauspieler durch bemerkenswerte Darstellungskunst eine Identifikation mit den von ihnen verkörperten Protagonisten ermöglichten, erhob sich der Saal am Ende und applaudierte minutenlang dem gesamten Ensemble unter Regisseur Stefan Wolfram, weil die Künstler unzweifelhaft für einen Höhepunkt dieser Schauspielsaison gesorgt hatten.
Das Rätselhafte am Himmel ist ja, dass ihn keiner wirklich kennt. Ungezählt sind die Lieder und Gebete und Meditationstexte der Religionen, in denen mit Worten auszudrücken versucht wird, was wir Menschen uns unter dem Himmel vorzustellen haben. Zumeist wird der Himmel darin als ein Zustand beschrieben, der sich nicht dadurch auszeichnet, was es dort gibt, sondern vielmehr dadurch, was es dort nicht gibt: Hass, Wut, Krieg, Neid, Eifersucht, Skrupellosigkeit – die Reihe ließe sich fortsetzen. Insofern war es schon ein bemerkenswerter Einfall, dass der bekannte schwedische Regisseur Kay Pollak mit Så som i himmelen im Jahr 2004 ein Musikdrama fürs Kino produzierte (die Bühnenfassung folgte wenig darauf) und mit dem Titel eine Verheißung gibt, auf deren Einlösung der Zuschauer begierig wartet. Sowohl im Film als auch im Stück werden aber eben gerade nicht paradiesische Zustände beschworen, sondern ganz im Gegenteil Durchschnittsmenschen gezeigt, die sich durch ihre Durchschnittsexistenzen in einem schwedischen Durchschnittsdorf kämpfen. „Wie im Himmel“ – der gängigen Vorstellung nach – sieht es also dort ganz und gar nicht aus, denn die Menschen leiden an ihren Fehlern und Verfehlungen, an ihren Ängsten und Sorgen; sie richten sich aber wiederum auch auf an ihren Träumen und Sehnsüchten und Idealen. Die Botschaft, die darum von Film und Stück ausgeht, ist so ermutigend wie sie auch herausfordernd ist: Der Himmel ist eigentlich schon überall dort, wo es Menschen gibt, die aufrichtig, mitfühlend und barmherzig denken, fühlen und handeln. „Wie im Himmel“ kann es also auch bei uns auf der Erde sein, es kommt nur darauf an, dass sich Menschen ihre Masken abreißen, mit denen sie ihre natürlich innewohnende Humanität im Alltag so oft verdecken. Die Bühnenfassung verdichtet die Handlung des Films notwendigerweise, wobei im Wesentlichen drei Erzählstränge ineinander verwoben sind und im Spiel auf der assoziativ gestalteten Bühne (Regisseur Stefan Wolfram lässt lediglich ein großes, mit grau-weißen Flecken versehenes himmelblaues Rechteck mittig im Hintergrund aufstellen, was als Markierung für Auf- und Abtritte dient; um die Kostüme dagegen kümmerte sich Irina Steiner) sichtbar gemacht werden.
Der eine akzentuiert unser Dasein als Außenseiter, die wir trotz aller Gemeinschaft vielfach sind und auch zeitlebens bleiben. Der nach einem Herzinfarkt aus dem Musikgeschäft ausgestiegene berühmte Dirigent Daniel Daréus möchte ein neues Leben abseits von Termindruck und Öffentlichkeit in der (kulturellen) Provinz beginnen und „zuhören“ lernen, was für ihn gleichbedeutend ist mit dem Erspüren menschlicher Daseinsformen. Michael Heuser gelingt es vortrefflich, den Dirigenten als dem praktischen Leben entrückten Weltfremden zu zeichnen, der weder Radfahren kann noch weiß, was es heißt verliebt zu sein. Die Mitglieder des Kirchenchores, denen Daréus als neuer Kantor bald nach Ankunft durch den verklemmten Pfarrer Stig Berggren (Olaf Hörbe) vorgestellt wird, erliegen dem Reiz des Fremden und werden durch ihn verleitet, über sich und ihre Rolle auf der Bühne dieses Dorfes nachzudenken. Da gibt es etwa Lena (Cordula Hanns hat sichtlich Freude an der lebensprallen Figur, der sie ihre Stimme und ihren Körper leiht), auf die die Leute ob ihrer ständig wechselnden Liebschaften mit dem Finger zeigen und die endlich die große, dauerhafte Liebe finden will. Die Zuschauer erleben den „dicken Holmfried“ (Jost-Ingolf Kittel), der seit Jahren den Spott vor allem von Arne (Grian Duisberg) ertragen muss. Das Publikum leidet mit dem behinderten Tore (Michael Berndt verdient sich hohe Anerkennung durch eine berührende Interpretation dieser schweren Rolle) und ist befremdet über Siv (Jonas Münchgesang), der als Spion des wenig gemochten Pfarrers sich selbst an den Rand des Chores laviert und um ein Haar eine außergewöhnliche Chorreise nach Wien verpasst.
Einen zweiten dramatischen Akkord bringen die Beziehungskisten zum Klingen, wobei insbesondere jene zwischen dem Pfarrerehepaar (Sophie Lüpfert als Stigs Frau Inger) mit Fortgang des Stückes immer mehr unter die Haut geht. Eine ganz starke Wirkung entfaltet Sophie Lüpfert durch stumme Blicke voller mitleidiger Verachtung, mit denen sie ihren bigotten Mann straft, nachdem dieser Daréus mit Hilfe des Kirchenrates des Amtes enthoben hat. Aber auch Gabriella (Julia Vincze), die immer zu spät zur Probe kommt, und ihr gewalttätiger und misstrauischer Mann Conny (Moritz Gabriel) sind ein Paar, deren Schicksal die Zuschauer nicht kalt lässt, auch ohne dass plakativ die feministische Keule gegen häusliche Gewalt geschwungen wird. Gabriella findet schließlich die Kraft und verlässt mit ihren Kindern das eheliche Haus. Rührend dagegen nimmt sich Eriks (Tom Hantschel) Geständnis aus, schon seit Jahrzehnten in Florence (Anke Teickner) verliebt zu sein, ohne aber je den Mut gefunden zu haben, eben dieses zu sagen. Auch Lena und Daniel finden noch zueinander, gleichwohl dieser Beziehung keine Zukunft beschieden ist, weil Daniel am Ende stirbt. Eine dritte Ebene, die den zentralen roten Faden der Handlung markiert, wird durch die zahlreichen Szenen geschaffen, in denen die Chormitglieder (außer den Genannten wirkt auch noch Anneliese Schiffmann a.G. als im Alter fortgeschrittene Olga mit) angeleitet durch Daniel erfahren, dass Klänge und Töne poetische Kraft innewohnt und die menschliche Stimme Magie zu entfalten vermag. Die Begeisterung dafür trägt den Chor schließlich bis zur Teilnahme an einem Chorfestival nach Wien, was im großen Finale durch die Mitwirkung der Chorgemeinschaft Radebeul-Lindenau angedeutet und damit gleichsam unter Einbezug des Publikums dramaturgisch abgerundet wird.
Auch wenn dieser Artikel aufgrund terminlicher Gegebenheiten erst vier Wochen nach der Premiere erscheinen kann und eine ganze Reihe Aufführungen während des Mai vonstatten gingen, so mag er doch dazu dienen, die für diese Spielzeit letzte Aufführung am 5. Juni in Radebeul gut besucht werden zu lassen und die Erwartung auszudrücken, dass diese gelungene Inszenierung mit in die neue Spielzeit übernommen wird.
Bertram Kazmirowski