Zum Theaterspektakel „Irrtümer II“ an den Landesbühnen Sachsen
Dass wirkmächtiges Theater unmittelbar auf die Zeitgeschichte reagiert und damit zu einem Ort der Konfrontation des Publikums mit den jeweiligen Lebensbedingungen gerät, ist ein so banaler Satz, dass ich ihn mir unter normalen Umständen als Beginn einer Besprechung nicht zu schreiben trauen würde. Allerdings bekam das zweite Theaterspektakel „Irrtümer“ der Landesbühnen Sachsen, das am 13./14./15. November unter dem Leitmotiv Utopien neun Produktionen (darunter fünf Premieren) versammelte, eine bedrückend tragische Aktualität. Denn während im Radebeuler Haus denkbare oder wenigstens mögliche Lebens- und Gesellschaftsentwürfe be- und gesprochen, gesungen, getanzt und gespielt wurden, wurde am Eröffnungsabend zur gleichen Zeit in Paris gehasst, geschossen und gebombt – im Namen einer zerstörerischen Utopie. Gut, dass die Intendanz ab dem zweiten Abend die Betroffenheit des ganzen Hauses mit einem Aushang bekundete, noch besser, dass das Publikum den im Foyer platzierten „Baum der Wünsche“ sofort als Projektionsfläche für Anteilnahme und Mitgefühl nutzte: „#pray for paris“ war dort zu lesen oder auch „Endlich Frieden“. Womit das Zweitgenannte die Utopie schlechthin markiert, an der sich die Menschheit seit Jahrtausenden erfolglos abarbeitet.
Wie auch schon im Jahr zuvor (damals unter dem Motto Familien-Wahn-Sinn) waren alle Sparten der Landesbühnen an diesem Abend im Einsatz und offerierten eine „Messe für die Gastspielpartner aus der Region“ (Intendant Manuel Schöbel). Damit sind ziemlich präzise Chancen und Risiken eines solchen Kraftaktes umrissen. Denn die Konzeption balanciert auf einem dünnen Seil, weil die schiere Masse an Angeboten (von denen man nur drei zu einem Termin wahrnehmen kann) zwar einerseits für jeden Geschmack etwas bereithält, andererseits in Kauf genommen wird, dass damit der Wert einer jeden Einzelproduktion verringert wird. Denn wo sonst z.B. Warten auf Godot ein Solitär ist und der Besucher nach 90 intensiven Minuten erfüllt nach Hause geht, werden die Eindrücke an diesem Abend nach einer kurzen Pause (ein Dank an das Haus für bereitgestellte Erfrischungen darf nicht fehlen, bedient dieses Angebot doch die Utopie, dass man satt wird, ohne selbst etwas dafür tun zu müssen) durch – wie in meinem Fall – eine nachfolgende Tanzperformance überlagert. Dabei hätten es Grian Duisberg und Michael Berndt-Cananá als Estragon und Vladimir ebenso wie Tom Hantschel und Marcus Staiger als Lucky und Pozzo verdient, dass „ihr“ neuer Beckett in der Regie von Peter Kube ungestört nachhallen kann. Das rätselhafte Meisterwerk des irischen Dramatikers ist nur scheinbar leicht zu bebildern, denn Beckett schreibt als Szenerie lediglich eine Landstraße und einen Baum vor. Genau das und nicht mehr stellt die Bühne (Tom Böhm) auch dar. In dieses trostlose Irgendwo geworfen kreisen die beiden Hauptakteure um sich in ihrem als von den Zuschauern absurd erlebten Dasein jenseits von Zeit und Ziel. Was immer auch der Text sagen soll – Beckett war sich dessen selbst nicht sicher – so ist er doch nach wie vor ein großes Fragezeichen, dem sich jeder Besucher auf eigene Weise nähern muss, ohne daraus je mit Gewissheit einen Punkt oder gar ein Ausrufezeichen machen zu können, eher noch einen Gedankenstrich.
Mit D.A.L.I., was Ballettchef Carlos Matos mit Die Allmacht Lärmender Intuition gleichsetzt, wird dem Publikum in der Probebühne ein bereits im Januar 2015 uraufgeführter Tanzabend präsentiert, der auf assoziative Weise zwei surrealistische Werke Dalis in Tanz übersetzt, ohne plakative Zuschreibungen vorzunehmen. Hier erzählen die Körper der sechs Akteure Geschichten, ohne Erklärungen aufzudrängen oder gar Deutungen vorzuschreiben. Unschärfe verhindert Eindeutigkeit verhindert Deutungshoheit – auch so kann die Utopie einer Welt ohne Meinungsführerschaft aussehen.
Die Premiere des von Peter Hacks entworfenen Dramoletts „Die Höflichkeit der Genies“, mit der ein Großteil des Publikums den Premierenabend beschloss, setzte einen heiteren Akzent, ohne freilich zum Thema Utopien etwas beigetragen zu haben. Eine fiktive Begegnung zwischen dem noch jungen Yehudi Menuhin (Jens Bache) und dem schon altersmilden, aber herrlich verschrobenen Albert Einstein (Matthias Henkel besetzt diese Rolle großartig) im Haus des Geigers in Los Angeles (dazu noch Julia Rani in der Rolle von Menuhins Schwester) mündet in einer Darbietung des berühmten e-moll Violinkonzertes von Felix Mendelssohn-Bartholdy durch Torsten Janicke als Solist, begleitet durch die Elblandphilharmonie unter Jan-Michael Horstmann. Nach etwas schleppendem Start gelang es dem Dirigenten zunehmend besser, sein Orchester an Janickes temperamentvolles und bewegungsfreudiges Spiel anzupassen, sodass insbesondere der 3. Satz zu einem feurigen und schwungvollen Kehraus geriet.
Was bleibt von diesem Abend? Der Eindruck, dass die Landesbühnen sich aktiv um ihr Publikum mühen, denn der betriebene Aufwand nötigt Anerkennung ab. Das Gefühl, dass das Format des „Theaterspektakels“ noch verbesserungsfähig bleibt, denn keines der drei von mir besuchten Aufführungen kann ich mangels entsprechender Angebote im Dezember in Radebeul oder der Region zum Besuch weiterempfehlen. Das Wissen, dass ein friedlich verbrachter Theaterabend keineswegs selbstverständlich ist in diesen Zeiten, denn – – –
Bertram Kazmirowski