Du musst Träumen ihre Entstehung zulassen, denn nur so kann irgendwann ein Teil davon auch Wirklichkeit werden.
Kapitel 2:
Der Traum vom dunkelroten Zug
Wie viele Sommerferien mag das nun schon her sein? Oder war es doch das Jahr, bevor Tom in die Schule kam? Jedenfalls beginnt diese Geschichte an einem sonnigen, heißen Sommerferienurlaubstag. Tom war mit seinem Vater Gerd für einige Tage in ein etwas merkwürdiges Gebirge verreist, wo Wanderwege durch Bäche und Aufstiege unter Wasserfällen hindurch führen. Es gab viel zu entdecken, gerade weil sich manch schöne Aussicht, ein stiller See, die geheimnisvolle Klosterruine oder das ein bissel verwunschen erscheinende Gasthaus erst nach längeren Fußtouren darboten. Tom und sein Vater frühstückten jeden Morgen zeitig, aber kräftig, in ihrer Pension, schnürten die Wanderstiefel, hatten im Rucksack ausreichend Proviant für den ganzen Tag, den Regenumhang verstaut und liefen alsbald frisch drauflos in die Natur. Wie gesagt, es war heiß an diesem Tag und weil die beiden schon vor dem Mittag in der Nähe einer Eishöhle im Felsen waren, beschlossen sie spontan eine Besichtigung. Tatsächlich hielten sich in dieser Felsenhöhle Eis und Schnee das ganze Jahr. Besucher kamen von überall her, bezahlten oben an einem Holzhäuschen Eintritt, wurden in kleine Gruppen eingeteilt, bekamen eine Höhlenführerin zugewiesen, die meist gleich mehrere Sprachen beherrschte und los ging der Rundgang in den Tiefen des Berges. Die Höhle war auf dem Besichtigungsweg sogar verschiedenfarbig mit Scheinwerfern erleuchtet und so strahlten die Zapfen, Klumpen, eckigen, runden, regelmäßigen oder eher bizarren Gebilde aus Eis auch noch in den unterschiedlichsten Farben. Es war eine unwirkliche Welt dort unten. Hätte nicht die freundliche Höhlenführerin etwas von Geologie, Erdzeitaltern, Verwitterung, Temperaturen und Bewegungen im Eis erzählt, so wäre aus Tom vielleicht ein Kai geworden. Kai, Gerda neben sich im Reich der Schneekönigin. Von Anfang an erinnerte ihn die Eishöhle an eben diese Geschichte eines Dichters aus dem Norden.
Als Tom und Vater Gerd nach dem eisigen Rundgang wieder im heißen Sommertag angekommen waren, wollten sie den Nachmittag noch beim Baden in einem nahen Stausee verbringen. Am Kiosk dort gab es Kuchen und Limonade, gleich hinter dem Bootsanleger startete eine Sesselliftbahn den Berg hinauf, Tom planschte, tauchte und schwamm mit seinem Vater im Stausee. Erst beim Abtrocknen fiel im auf, drüben, am anderen Ufer verliefen Gleise einer Eisenbahn entlang und bald darauf fuhr auch schon ein Zug vorbei. Nein, nicht vorbei. Längs des Sees wurde der lange Zug mit seinen dunkelroten Wagen langsamer, bis er an einer kleinen Bahnstation anhielt. Nur ein paar Leute stiegen aus, es schien, als müssten Sie geradeaus blicken, also über den Stausee direkt in das herrlich zerklüftete Gebirge. Wie das wohl von der anderen Seite des Sees sich auftat? Tom und Gerd würden es in diesem Urlaub nicht mehr dorthin schaffen. Auf das Sonnenwetter folgten nämlich heftige Gewitter und danach wurde es Zeit, wieder nach Hause zu fahren.
Wie lange mochte das her sein, wie viele Schulferiensommer lang? Tom hatte dieses Bild in sich und er hatte es nie vergessen. Immer sah er sich im dunkelroten Zug fahren, langsam das andersseitige Seeufer entlang, anhalten an der kleinen Bahnstation, Blick zu den Bergen. Ob damals auch Leute zustiegen, die weiter wollten…? Es ist zu lange her.
Heute ist es ein regnerischer, sehr grauer und kühler Sommertag. Tom sitzt mit seinen Gedanken und den Bildern der Erinnerung von damals endlich selber im dunkelroten Zug. Er hatte sich lange auf den Augenblick gefreut, immer wieder im Fahrplan nachgeschaut, die Uhr verglichen. Der Zug ist pünktlich, als Tom aus dem Abteilfenster hinaus auf den See schaut. Wie damals wird der Zug langsamer, um schließlich an der kleinen Bahnstation zu halten. Die Berge hinter dem Stausee aber sind nur als mächtige graugrüne Masse zu erahnen. Eine einzige, schon sehr alte Frau mit zwei viel zu großen Taschen steigt aus, niemand will mitfahren. Durch die Morgennebelschwaden sieht Tom noch das Signal für die Gegenrichtung auf Rot… Da ist der dunkelrote Zug längst wieder losgefahren, langsam Tempo aufnehmend. Die Landschaften wechseln bald an seiner Strecke. Toms Ziel liegt noch einige Kilometer weit entfernt, er würde auch noch umsteigen müssen, Aufenthalt haben.
Wie oft hatte Tom immer wieder davon geträumt, ehe sich das Bild in ihm verfestigte und zu seinem dunkelroten Zug wurde? Hat sich nun trotz des neblig-grauen Wiedersehens sein Traum erfüllt? War er jetzt froh oder vielleicht eher traurig und sogar enttäuscht? Sollte er die Fahrt wiederholen, um dem alten Bild nachzujagen oder weiter verreisen und an neue Ziele denken?
Tobias Märksch