Mit Tom Tagtraum durch das Jahr 2016 – Teil 8

Du musst Träumen ihre Entstehung zulassen, denn nur so kann irgendwann ein Teil davon auch Wirklichkeit werden.

Für Geld nicht zu kaufen

Wie sehr hatte sich Tom damals auf den Besuch im märchenhaften Schloss gefreut, dem weißen Türmchenschloss vor den mächtigen Bergen. Ein Poster hatte er in seinem Zimmerchen an die Wand gepinnt, das Schloss sogar aus Puzzleteilen zusammengesetzt, viel darüber gelesen. Aber am Ende saß Tom traurig in dem kleinen Ort unterhalb des Schlosses, schaute immer wieder und immer trauriger in dessen Richtung, hatte den Reiseführer und das Große-Tom-Abenteuer-Notizbuch neben sich liegen und wusste nicht so recht weiter. Die ganze lange Reise, 3 Stunden anstehen am Schloss, nur langsam kam der Strom der Besucher aus aller Welt dem Schlosseingang näher. Das teure Eintrittsgeld, schließlich die Führung in einer dicht gedrängten Gruppe von Menschen, keine Möglichkeit zum Verweilen, zum Zeichnen und Geschichten vor Ort spinnen. Nach 20 Minuten war der Traum vom Märchenschloss saure Wirklichkeit und schlichtweg vorüber. Schloss ade. Andernfalls wieder hinten anstellen, wieder warten, Eintrittsgeld, 20 Minuten…. Halt. Das eben war so gar nicht Toms Traum gewesen… Da erhob sich Wind von den mächtigen Bergen und blätterte schließlich vor und zurück durch die Seiten des Großen-Tom-Abenteuer-Notizbuches und Tom begann, bald anders zu träumen.

Das handgewebte Tuch

Alles Quatsch. So was gibt es heute nicht mehr. Kein Mensch macht sich die Mühe, ein Küchentuch, also solch eines zum Tisch abwischen und Gläser polieren, auf einem alten, ja 200 Jahre alten Webstuhl in Handbedienung zu weben. Und selbst wenn, wer wollte solch ein handgewebtes Küchentuch kaufen? Es müsste doch genau so viel kosten wie – nun vielleicht wie ein Notebook mittleren Preises. Und doch besitzt Tom so ein Tuch. Er musste es nicht einmal bezahlen, sondern hat es von einer älteren, würdigen, grauhaarigen Dame geschenkt bekommen. Und das kam so. Tom ist ins Land der Umgebindehäuser aufgebrochen. Teils auf schmalen und etwas verwunschenen Wegen nähert er sich der Gegend in seinen federnd-leichtfüßigen, fröhlichfarbenen Wanderstiefeln Stück für Stück. Kurz vor dem Ziel sieht man ihn in seinem schilfgrünen Paddelboot auf einem kleinen Bach, der vor einer Brücke mit losen Steinen aufgestaut ist. Und nicht weit von der Brücke befindet sich das größte Umgebindehaus weit und breit. Darin ist ein Museum, schon lange wollte Tom es besuchen. Nun ist er da, vertäut sein Boot an einem Brückenpfeiler und tritt ein. Tom ist der einzige Besucher heute. Die ältere, würdige, grauhaarige Dame im Museum begrüßt Tom herzlich mit Handschlag und führt ihn durch die Räume. Mitunter kämen ja ganze Schulklassen oder Reisebusgesellschaften. Heute aber ist Montag und das Museum normalerweise geschlossen. Aber Tom hatte sich schon vor Tagen per E-Mail angemeldet und noch mal per Telefon nachgefragt. „Ja, dann komm doch einfach vorbei, wenn du es nur so einrichten kannst, Tom. Das klappt dann schon.“, war die verbindliche Antwort. Die wohltuend warme Stimme der älteren Dame klang Tom die ganze Zeit im Ohr. Jetzt ist er hier im Museum, mit vielen Fragen, denn er hat vorher viel darüber gelesen und interessiert sich für das Leben und die Arbeit der Tuchweber in alter Zeit. Es stellt sich heraus, dass die ältere, würdige, grauhaarige Dame im kleinen Umgebindehausdorf sonst noch den Chor dirigiert, sonntags in der urigen Kirche die Orgel spielt, mittwochs und freitags bei sich zu Hause Klavier- und Blockflötenunterricht gibt und sich mit anderen Umgebindehausdorfbewohnern die Betreuung des Museums teilt. Schließlich, fast am Ende der Führung, stehen beide, die ältere Dame und Tom, vor dem riesigen, 200 Jahre alten Webstuhl. Der ist liebevoll rekonstruiert worden von wieder ganz anderen Umgebindehausdorfbewohnern, denen das Leben ihrer Vorfahren immer am Herzen gelegen hat. Nicht nur, dass das Holz glänzt und Leinenfäden im Webrahmen gespannt sind, nein, der Webstuhl funktioniert exakt wie vor 200 Jahren. Jedem Besucher wird er vorgeführt. Den Schulklassen und den Individualisten. Ein Tuch ist im Entstehen, das Webstuhlschiffchen schießt einen weiteren Faden hindurch. Mehr ist in einem Museum nicht möglich. Die Weber vor 200 Jahren saßen zwölf, vierzehn, ja sechzehn Stunden an ihren Webstühlen, um Tücher herzustellen, das Webschiffchen flog nur so hin und her. Heute fliegt ein Faden pro Besucher und mitunter dauert es ein oder sogar zwei Jahre, bevor ein Tuch entstanden ist. Für Geld nicht zu kaufen. Aber der Zufall will es, Tom, eben einziger Besucher, erlebt den Moment, als der letzte horizontale Faden das Tuch im Webstuhl vollendet. „Tja Tom, das ist immer ein ganz besonderer Moment.“ Die ältere, grauhaarige, würdige Dame mit der wunderwarmen Stimme hält einen Moment inne und lädt Tom schließlich zu Hagebuttentee und Streuselkuchen ins kleine Museumscafé ein. „Weißt du, Tom, das Tuch wird jetzt noch umsäumt und verpackt. Wir verkaufen diese Tücher nie, welchen Preis soll man dafür berechnen, keiner weiß das so richtig. Aber so selten wie solch ein Tuch fertig wird, so selten haben wir auch Besucher wie dich, die nicht nur Eintritt bezahlen und durch die Räume laufen, nein, die sich wirklich für alles interessieren, Fragen stellen, Notizen machen, ja sogar den Webstuhl abzeichnen. Beim Teeaufbrühen habe ich mit dem Museumsvorstand telefoniert – Tom, dieses Tuch gehört dir. Über ein Jahr hat es gedauert, bevor es fertig wurde. Nimm es mit nach Hause und du wirst dich an alles hier immer genau erinnern…“

Die ältere, grauhaarige, würdige Dame mit der wunderwarmen Stimme stand noch lange auf der Brücke, als Tom mit seinem schilfgrünen Paddelboot den kleinen, hier mit losen Steinen angestauten Bach nun hinauf fuhr. Bald würde er bei den schmalen, etwas verwunschenen Wegen anlegen und seine federnd- leichtfüßigen, fröhlichfarbenen Wanderstiefel wieder anziehen. Unter seinem bunt karierten Hemd aber trägt er, sorgsam behütet, einen Schatz unschätzbaren Wertes mit sich nach Hause.

Tobias Märksch

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