Du musst Träumen ihre Entstehung zulassen, denn nur so kann irgendwann ein Teil davon auch Wirklichkeit werden.
Ferdinand, der verrückte Luftgraf
Das aber träumt selbst Tom nicht am Tag, sondern im tiefsten Schlaf. Die Fahrt im dunkelroten Zug war sehr lang und voller Bilder und ging in den Süden des Landes, in dem Tom lebt. Vor einer mächtigen Bergkette, die auch die Grenze zu zwei Nachbarländern durchzieht, liegt ein weiter und weltentiefer See, mit dem es noch die Bewandtnis hat, dass ein Fluss, gerade erst entstanden, auf der einen Seite hinein fließt, um den See auf der anderen Seite wieder zu verlassen und das ganze Land Richtung Norden zum Meer durchzieht.
Mittagszeit ist es am See, die Märzsonne strahlt hier meist viel kräftiger und wärmer schon als an anderen Orten des Landes. Genau das muss unseren Tom aber auf einer Bank vorm Eiscafé an der Seepromenade plötzlich so schläfrig gemacht haben.
Dass nun gerade in diesem Traum Tom eben Ferdinand erschien, Ferdinand der verrückte Luftgraf, das wiederum ist kein Zufall, es hängt mit dem Ort am See zusammen. Ferdinands Idee, die Erde mit Fluggeräten zu erkunden, die Menschen jeden Tag, ja jede Sekunde über Ländergrenzen, ja Meere und Kontinente hinweg durch die Luft gleiten zu lassen – diese Idee wurde hier am See geboren. Nein, Ferdinand war längst nicht der erste Mensch, der vom Fliegen träumte und zu fliegen versuchte. Seine Besessenheit aber, silbergraue Luftschiffe zu bauen, die sehr weite Strecken in großer Höhe zurücklegen können und Menschen auf der ganzen Erde miteinander verbinden, dieser Spleen des „verrückten Luftgrafen“ war der Beginn dessen, was wir heute erleben, wenn wir vor der elektronischen Anzeigetafel eines großen Flughafens stehen und versuchen, die Zielorte auf der Erde nach Ländern und Richtungen zu ordnen. Tom träumt, von Ferdinand durch die alte Luftschiffwerft geführt zu werden und findet, dass sich beide in ihren Ideen und Spinnereien sehr gut verstehen. Wie Tom hat einst Graf Ferdinand Träumen ihre Entstehung zugelassen. Er hatte von einem Helden namens Ikarus gelesen, der seine Gefangenschaft auf einer Insel mit selbst gebauten Flügeln verlassen und in die Freiheit wollte. Eine Sage, erhalten aus einer Zeit, die heute durch ihre hinterlassenen Aufzeichnungen entschlüsselbar ist. Ikarus‘ Flucht misslang, er stürzte ins Meer. Von Graf Ferdinands Träumen aber hat sich nicht nur ein Teil verwirklicht, nein, es ist viel mehr Wirklichkeit geworden, als das, wovon Ferdinand je zu träumen gewagt hatte.
Jetzt wird es am See etwas lauter. Aus dem Hafen ausgefahren, nimmt ein möwenweißer Katamaran an Fahrt auf, um den See diagonal in den Hafen der Stadt am Uferhorizont zu durchqueren. Weit draußen begegnen sich zwei Fähren mit kunterbunten Autos in ihrem Unterdeck, denen der Weg so verkürzt wird. Und als wäre das noch nicht genug, setzt noch ein – diesmal dunkelblaues und schon etwas größeres – Flugzeug zur Landung auf dem Flugplatz der Stadt am See an. Es fliegt deshalb schon ganz tief, als es die ersten Häuser an der Uferpromenade samt der Bank vorm Eiscafé mit dem eingedösten Tom überquert. Tom fühlt sich in den Arm gekniffen, als er wieder wach wird, das Eis in seiner Waffel ist ein wenig angeschmolzen. „Ferdinand? Hallo Graf Fer…“ Da entdeckt Tom hoch über dem See ein ruhig ziehendes, traumorangefarbenes Luftschiff. Er kneift sich noch einmal selbst in den Arm, steht auf und läuft lächelnd die Seepromenade hinab.
Tobias Märksch