Das Volk sollte nicht unterschätzt werden. In seinen Sprüchen liegt viel Wahrheit. Der Büchermarkt ist voll von Werken über dessen Lebensweisheiten. An Titeln wie „Klappe zu, Affe tot“, „Deutsche Sprichwörter“ oder „Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen“ ist das Angebot groß. Heutzutage allerdings entstehen nur noch selten Sprichwörter. Die rasch wechselnden Erfahrungen, Beziehungen und kompliziertere Sachverhalte lassen kaum die dazu notwendigen Verallgemeinerungen zu. Auch die Sprüche meiner Mutter, welche sie zu jeder Gelegenheit parat hatte, stammten größtenteils aus dem 16. Jahrhundert. Wenn es mal nicht so mit einer Sache vorangehen wollte, sagte sie: „Gut Ding will Weile haben.“. Aber was ist heutzutage schon „gut“? Hier will ich nicht erst in den Spruchbeutel greifen. Des Volkes Auslassungen dazu füllen Seiten. Auch in der gegenwärtigen Alltagssprache sind Sprüche und Sprichwörter weit verbreitet. Man hat allerdings den Eindruck, dass deren tiefer Sinn kaum noch Beachtung findet. Bezüglich des Wortes „Weile“ haben sich die Ansichten und Erfahrungen jedenfalls verschoben, wie das „Merkelsche Aussitzen“ belegen mag. Da wird eben nicht alles gut. „Denkpause machen“ ist aber eine typische Erfindung der neuen Neuzeit, einer Zeit, in der man eben keine Zeit mehr hat. „Denkpause machen“ ist wohl eher eine Redewendung, wenn Der- oder Diejenige nicht mehr weiter weiß.
Eine solche Denkpause hatte sich die Stadtverwaltung bezüglich des Sanierungsgebietes „Zentrum Radebeul-West“ gegönnt. „Vorschau & Rückblick“ berichtete bereits in der Mai-Nummer dieses Jahres davon. Die verordnete sechsmonatige Karenzzeit scheint nun offensichtlich vorbei zu sein. Wie anders lässt es sich sonst erklären, dass im November die 3. Ausgabe der „Westpost“, eine Art Sanierungszeitung, erschienen ist? Da deren Auflagenhöhe nur 1.000 Exemplare beträgt, habe ich für unsere Leser einen Blick in das Faltblatt gewagt.
Neben fünf redaktionellen Artikeln über die neusten Ereignisse rund um die Bahnhofstraße, einem Interview sowie aktuellen Veranstaltungshinweisen beschäftigt sich der Hauptbeitrag unter dem Titel „Gewappnet für den Wandel“ intensiv mit dem Sanierungsgebiet. Man erfährt, dass ein Leipziger Planungsbüro für Stadtstrategien eine Analyse des Sanierungsgebietes und eine Bedarfsforschung durchgeführt hat. Präsentiert wurden deren Ergebnisse an einem späten „Septemberabend“ im Bürgertreff. Warum diese Analyse erst jetzt erarbeitet und vorgestellt wurde, wo doch die Einreichung des Sanierungsantrages über zwei Jahre zurückliegt, erfährt man hingegen aus der „Westpost“ nicht. Eingeladen waren laut Beitrag an jenem späten Septemberabend „Händler und Stadtplaner“. Denken könnte ich mir, dass dies auch die Anwohner stark interessiert hätte, denn das Ziel, „Radebeul-West zu einem attraktiven Viertel zu entwickeln, mit hoher Aufenthaltsqualität und einer besonderen Einkaufsmeile“, geht schließlich alle an. Und dann gleich ganz Radebeul-West? Habe ich hier etwas verpasst? Ganz konkret geht dann der Beitrag an anderer Stelle darauf ein, dass für die Bahnhofstraße ein neues „Erscheinungsbild“ geschaffen werden soll. Also, was nun, doch nicht ganz Radebeul-West, wie am Anfang des Beitrages beschrieben?
Sei es wie es sei. Dass Radebeul-West eine Veränderung braucht und nicht nur eine attraktive Einkaufsmeile, ist jedem klar und uns allen zu wünschen. Nach dem hier nun schon einige „Kinder in den Brunnen gefallen“ sind, ist „Eile mit Weile“ angebracht. Doch sollte man dabei eben nicht voreilig „ins Kraut schießen“. Teillösungen, ob nun für den Bahnhofsvorplatz oder anderswo, sind tunlichst zu vermeiden, um nicht als populistische Aktion zu verenden, zumal an anderer Stelle schon vollendete Tatsachen geschaffen wurden. Inwieweit sich dabei der geplante Schulneubau zwischen der Harmonie- und der Hermann-Ilgen-Straße, die damit herbeigeführte Verdichtung und das höhere Verkehrsaufkommen auf die Entwicklung des Gebietes auswirken werden, war aus dem Beitrag jedenfalls nicht zu entnehmen. Auch wurde nicht berichtet, wer denn „das Machbare und Wünschenswerte“ aus den drei vom Leipziger Büro vorgestellten Szenarien herausfiltern wird. Über die Szenarien selbst schweigt sich der Beitrag aus. Die Bürger hätten da sicher gern etwas mehr gelesen.
Richtig ist, dass die Rahmenbedingungen um die Bahnhofstraße zu verbessern sind. Die Attraktivität einer Einkaufstraße hängt aber nicht allein davon ab, wie kunstvoll sie gestaltet ist, sondern ob der Kunde ein ihn interessierendes Angebot vorfindet. Wie sich die Verlegung der Drogerie Roßmann und der Zuzug des Tatoo-Studios künftig auswirken wird, bleibt abzuwarten. Die vielen anderen Verluste wie die Schließung von Eisen-Lindner oder des Lebensmittelmarktes mal beiseitegelassen. Eine Kommunikation aber mit allen Betroffenen scheint mir unabdingbar. Deshalb sollte der Bürgertreff auch wieder ein Ort der Begegnung mit Bürgern werden und eben kein Experimentierfeld für Gewerbetreibende und andere Akteure. Denn, leer stehende Läden gäbe es dafür im Gebiet mehr als genug. „Über das Knie brechen“ sollte man jedoch nichts, auch wenn dabei erfahrene „Weisheit … ein hartes Brot“ ist. Professionelle Hilfe von außen ist immer gut und zu begrüßen. Ob die drei Beispielszenarien des Leipziger Büros aber den Wandel bringen, mag angesichts bisheriger Erfahrungen angezweifelt werden. Die direkte Verkehrsanbindung zum Anger muss auf jeden Fall erhalten bleiben!
Karl Uwe Baum