Risikolos inszeniertes Hippie-Revival

Zur Premiere des Rockmusicals „Hair“ an den Landesbühnen am 4./5. Mai

„Hair“ – Premiere mit Luca Lehnert, Julia Rani, Lea Göpel, Christin Rettig, Holger Uwe Thews, Felix Lydike und Michael Berndt (v.l.)
Foto: M. Reißmann

Auf die Premiere des epochalen Rockmusicals „Hair“ an den Landesbühnen hatte ich mich schon lange gefreut, denn vor gut 20 Jahren war ich selbst Teil einer ambitionierten Amateurtheatergruppe gewesen, die dieses kultige Stück mit Livemusik und allem Drum und Dran inszeniert und auf einer Tournee kreuz und quer durch Sachsen auf die Bühne gebracht hatte (vgl. auch V&R 6/97, S. 10). Wie würde nun, 50 Jahre nach der New Yorker Uraufführung und deutschen Erstaufführung, ein professionelles Theater diesen Stoff aufgreifen und in eine stimmige, zeitgemäße Inszenierungsidee überführen? Denn „Hair“ fängt wie kaum ein anderes Werk das Lebensgefühl einer Generation in der damals westlichen Welt ein, die in den späten 1960er Jahren das Aufbegehren und den Protest gegen die Politik (Vietnamkrieg), bürgerliche Werte (Disziplin, Fleiß, Ehe etc.) und gesellschaftliche Verhältnisse (Diskriminierung von ethnischen Minderheiten, eingeschränkte Rechte für Frauen u.a.) durch ein Leben in „Love, Peace and Happiness“ – und eben mit lang gewachsenen Haaren – sichtbar machen wollte. Aber die Welt hat sich unterdessen weitergedreht, Jugend und Gesellschaft bewegen heute andere Probleme als damals. „Woodstock“, „Hippies“, „Flower Power“: die Schlagworte jener Jahre sind inzwischen vom Mainstream vereinnahmt worden und dienen schon lange nicht mehr als geeignete Zuschreibungen für ein antibürgerliches Schreckgespenst. Heute geht man als Mittfünfziger auf „Flower Power Parties“ um sich nett zu amüsieren, hört dabei die Musik jener Jahre, bewundert ungebrochen Joe Cockers Reibeisenstimme, Jimi Henrix’ Gitarrensoli und summt verträumt mit, wenn „California Dreamin’“ erklingt. Zeitlos allerdings ist das ewige Leiden junger Menschen an der Erwachsenenwelt, an den Verknöcherungen und Erstarrungen, denen man als Heranwachsender heute nicht anders als damals (weitgehend machtlos) gegenüber steht. Stichwort #FridaysForFuture. Und genau dieser grundsätzliche Umstand, so hatte ich hoffend erwartet, würde Ausgangs- und Bezugspunkt für eine spannende Inszenierung sein, die das Damals ins Heute übersetzt. Das Bühnenbild (Stefan Wiel), gut sichtbar bereits vor Beginn der Aufführung, ist diesbezüglich schon eine erste kleine Enttäuschung. Denn aus den die Spielfläche flankierenden Straßenmauern schauen doch tatsächlich ganz unironisch und ungebrochen die späten 60er Jahre der USA hervor: „Join the Army“ – „Uncle Sam wants you“ und weitere diverse zeittypische Graffitiversatzstücke, darunter natürlich auch „Love“ and „Peace“. Die nächste Ernüchterung folgt, wenn die Musik anhebt: Aus mir nicht ganz ersichtlichen Gründen hatte sich das Team um Regisseur Peter Dehler dazu entschlossen, die deutschsprachige Fassung der Liedtexte zu verwenden, was im Laufe der Inszenierung ein ums andere Mal die teilweise sehr naiven Texte bloßlegt, bisweilen aber auch dem geschmeidigen Groove der Musik abträglich ist, denn nicht ohne Grund hatte Komponist Galt McDermot die Musik für die bereits in Englisch bestehenden Liedtexte geschrieben. Dass sich ab und an doch eine englische Strophe mit einer deutschsprachigen abwechselt oder vereinzelt ein Song ganz in Englisch gesungen wird, ist womöglich der Versuch, dem Originalsound irgendwie nahe zu kommen. Apropos Sound: „Hair“ hat vor allem wegen seiner mitreißenden, schon fast klassisch zu nennenden Songperlen wie „Aquarius“, oder „Let the Sunshine in“ nichts von seiner musikalischen Attraktivität verloren. Tatsächlich steckt in den Nummern viel von der eigentlichen Handlung, weshalb auch die Band auf der Bühne (musikalische Leitung: Michael Fuchs und Uwe Zimmermann) die Aufführung vorantreibt und trotz kleiner Besetzung (insgesamt nur acht Musiker) orchestrale Klänge ebenso überzeugend hervorzaubert wie zarte Töne. Im Zusammenwirken mit dem Chor, bestehend aus allen Solisten und verstärkt um weitere acht Studierende der Theaterakademie Sachsen, entstehen so großartige, die Zuschauer in Tanzlaune versetzende Momente, noch dazu, weil über weite Strecken die Darsteller in ihren fantasievollen Retro-Kostümen (Stefan Wiel) in einer sehenswerten Choreografie (Till Nau) tänzerisch alles geben. Etwas schwerer tun sich einige der Darsteller (Anderson Pinheiro Da Silva, Grian Duesberg, Alexander Wulke, Julia Vincze, Sandra Maria Huimann, Luca Lehnert) allerdings mit ihren mal kleinen, mal größeren Soloparts, wobei es dem als Gast verpflichteten ausgebildeten Musicaldarsteller Benjamin Oeser (in der Rolle des Berger) und Christin Rettig (als dessen Freundin Sheila) noch am besten gelingt, die teilweise anspruchsvollen Songs kraftvoll in den Höhen bzw. satt in den Tiefen darzubieten. An seine stimmlichen Grenzen stößt (vielleicht nur am Premierenabend?) leider hörbar Holger Uwe Thews in der zentralen Rolle des Claude, um den herum sich auch die eigentliche Handlung dreht. Dessen Dilemma zwischen Anpassung an die Konventionen (dem Dienst an der Waffe im Vietnam-Krieg) und dem Wunsch nach einem selbstbestimmten, freien Leben (als Hippie in einer Gruppe von Aussteigern) wird ebenso erst nach und nach transparent erzählt wie die zwischenmenschlichen Konflikte innerhalb der Gruppe, die Claude zunehmend vor die Frage stellen, inwieweit er Verantwortung übernimmt (für sich selbst, für seinen Freundin mit dem Baby im Bauch, für den Staat). Dass die Lesart des Regieteams gänzlich darauf verzichtet, Deutungsangebote für die Gegenwart zu liefern, wird symptomatisch im Schlussbild deutlich, als Claude unter einer amerikanischen Flagge begraben liegt. In einer Zeit, da sich die USA immer weiter aus den Krisenherden und Konflikten zurückzieht, wirkt dieser Schluss gestrig und verstärkt den Eindruck, dass man auf Nummer sicher gehen und jedes Risiko einer angemessenen Aktualisierung vermeiden wollte. Schade.

Es ist zu erwarten, dass das Stück auf der Felsenbühne Rathen, wo es ab 8. Juni bis in den Sommer hinein mehrfach zu sehen und hören sein wird, vor allem aufgrund seiner musikalischen und tänzerischen Qualität wirken und für gute Unterhaltung sorgen wird. Möge dann der Wassermann zu den Aufführungsterminen nur sparsam sein Unwesen treiben, vielmehr reichlich Sonnenschein regieren.

Bertram Kazmirowski

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