Ein Frauenort in Radebeul

Am Vormittag des 30. September, kurz vor 11 Uhr, war vor unserem Haus in der Gellertstraße 15 eine ungewöhnliche Szene zu beobachten. Gut dreißig Personen hatten sich hier versammelt, die sich angeregt unterhielten und erwartungsvoll der Dinge harrten, die da kommen würden. Alle Anwesenden waren schon oft hier gewesen, als Kinder, Mütter, Mitarbeiterinnen oder Kolleginnen meiner Großmutter. Heute waren sie gekommen, um sie durch ihre Teilnahme an der kleinen Feierstunde zur Enthüllung einer Gedenktafel zu ehren. Viele sprachen mich an, manche, um mit Stolz von einer kurzen Mitfahrt in ihrem legendären Opel P4 zu berichten, alte Fotos oder ihre Impfbestätigung zu zeigen. Andere, vor allem Mütter, sprachen von dem inständigen Bemühen meiner Großmutter um ihre kranken Kinder. Ich war überrascht, dass meine Großmutter auch vierzig Jahre nach ihrem Tod noch so präsent ist und ihr noch immer so viel Hochachtung entgegengebracht wird.

Vater Johannes Hartung, Frl. Dr. med. Christa Hartung, die Mutter Gustava Hartung sowie die Tante Clara, genannt Tala, Schwester der Mutter ( v.l.n.r.)
Foto: H. Pitsch


Dem Landesfrauenrat Sachsen e.V. ist es zu verdanken, dass nun eine Gedenktafel an meine Großmutter als langjährige Kinderärztin in Radebeul erinnert. Der Text der Tafel berichtet neben ihrem persönlichen Werdegang von den vielfältigen Aufgaben und den täglichen Herausforderungen der Arbeit in einer Kinderaztpraxis. Vor der Enthüllung der Gedenktafel würdigten Bürgermeister Winfried Lehmann und Vertreterinnen des Landesfrauenrates das Wirken von Radebeuls erster Kinderärztin, Weggefährten und Mitglieder der Familie fanden persönliche Worte der Erinnerung. Schwester Gisela Bluhm, die wichtigste Mitarbeiterin meiner Großmutter, berichtete vom turbulenten Arbeitsalltag, was bei den Anwesenden Erstaunen hervorrief und auch Bestätigung fand. Früher war eben manches anders als heute, da wurden Wunden vom Kinderarzt genäht und geklammert oder, wenn es schnell gehen musste, auch der Magen ausgepumpt. Frau Dr. Marianne Kazmirowski ergänzte die Erinnerungen aus ihrer Sicht als Kollegin. Als Mitglied der Familie war ich gebeten worden, einige Worte zu sagen. Lange habe ich darüber nachgedacht, worüber ich sprechen soll. Was ist erinnerungswürdig? Da ich meine Großmutter nur als Kind kannte, erinnere ich mich nur aus der Perspektive des Enkelkindes. Erst als Erwachsene ist mir bewusst geworden, welchen besonderen Weg meine Großmutter genommen hat, wie weit sie und auch mein Großvater ihrer Zeit voraus waren. Leider war ich zu jung, um vieles nachzufragen, über ihre Studienzeit während der 20er Jahre oder meinen Großvater, über den sie nie gesprochen hat. Alle Großeltern sollten für die Enkel ihre Lebensgeschichte aufschreiben, sonst geht so viel unwiederbringlich verloren.

Meine Großmutter (li.) mit einer Kommilitonin in den 20er Jahren
Foto: H. Pitsch


In unserem Haus roch es immer leicht nach Desinfektionsmittel, davor standen täglich unzählige Kinderwagen, die Großmutter war während des Tages nicht zu sprechen. Dass zuerst die Patienten kamen und dann die Familie, hatte ich früh verstanden. Das machte mir nicht viel aus, da Großmutter mir einen Großteil ihrer wenigen Freizeit widmete. Gegen Abend, wenn sie am Schreibtisch saß, leistete ich ihr gern Gesellschaft. Dann saßen wir uns gegenüber, ich versah Rezepte mit ihrem Stempel oder betrachtete die medizinischen Instrumente, was zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehörte. Später durfte ich sie gelegentlich zur Mütterberatung in Friedewald begleiten und ihr etwas zur Hand gehen. Wenn Großmutter im Sommer sonntagsfrüh nach Dippelsdorf fuhr um schwimmen zu gehen, nahm sie mich oft mit. Wenn wir im Lössnitzgrund der Bimmelbahn begegneten, die sie sehr liebte, war die Freude groß. Wir kurbelten die Fenster herunter um vom Qualm eine Prise zu nehmen. Die schönste Zeit des Jahres waren die drei Wochen im September, die wir in Dierhagen verbrachten. Für die wenigen freien Tage wurde das „Heideglück“ gemietet, ein wundervolles reetgedecktes, aber spartanisch eingerichtetes Häuschen, in dem es kein fließendes Wasser gab, dafür eine Schwengelpumpe im Garten. Großmutter verbrachte die Tage am liebsten lesend im Liegestuhl mitten im Heidekraut. Die Gärtnerei Plänitz schickte auf ihren Wunsch Päckchen mit Tomaten. Sie liebte Pferde, deshalb hatte sie immer ein Stück Würfelzucker in der Jackentasche. Vielleicht mochte sie daher auch Moritzburg so sehr, insbesondere Adams Gasthof, in welchem wir als Familie oft zu Gast waren. In den 70er Jahren brüteten die Schwalben dort im Hausflur und es gab Pferde auf dem Hof. In unserem Garten gab es leider keine Schwalben, aber viele Amseln, die von Großmutter regelmäßig gefüttert wurden.

Gedenktafel an der Grundstücksmauer auf der Gellertstraße 15
Foto: H. Pitsch


Zur Feierstunde sagte ich bereits, dass ich als Enkelkind der Frau Sanitätsrat in gewissem Sinne privilegiert war. Zum einen konnte ich am kulturellen Leben der Großmutter teilhaben. Neben den bereits erwähnten Besuchen von Konzerten, Ausstellungen und Eröffnungen solcher bei Kühls sind mir im Freundeskreis der Großmutter viele interessante Menschen begegnet. Besonders mochte ich Christian Rietschel, der mit seiner Frau häufig zu Besuch war. Er konnte wunderbar zeichnen und war immer bereit, für mich wundervolle Wesen wie Pferde oder Elefanten zu Papier zu bringen.

Zum anderen begegneten mir Bekannte meiner Großmutter sehr freundlich und aufmerksam, was mich bisweilen verwunderte. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir in diesem Zusammenhang der Zahnarzt Dr. Mittag, dessen Familie ebenso wie meine seit den 30erJahren auf der Gellerstraße wohnt. Dieser erwiderte bei einer Begegnung meinen Gruß mit einem Griff an seinen Hut, den er leicht lüftete. Heute weiß ich, dass diese Aufmerksamkeit der Achtung meiner Großmutter gegenüber geschuldet war.

Das größte Privileg aber war, ungeteilte und bedingungslose Aufmerksamkeit zu erhalten. Im Rückblick ist es bemerkenswert, wie es meiner Großmutter in den vergleichsweise wenigen Jahren gelang, bei mir Interessen zu wecken, Lebensmaximen anzulegen und meine zukünftige Entwicklung positiv zu beeinflussen. Entscheidend waren, so glaube ich heute, ihre Großzügigkeit, alle meine Interessen zu unterstützen und zu fördern, mich an ihren teilhaben zu lassen und ihr Bemühen, Vorbild zu sein. Das heißt vorallem, fleißig zu sein, hart gegen sich selbst, die Hilfebedürftigen in den Vordergrund zu stellen und nicht sich selbst. Zudem sich an Schönem zu erfreuen, dankbar sein und, ihr wichtigstes Credo, immer weiter zu lernen.

Die Ehrung meiner Großmutter als eine besondere Frau Sachsens hat unsere Familie mit großer Freude erfüllt. Mit Stolz haben wir zu Kenntnis genommen, dass sie nicht vergessen ist und zahlreiche Radebeuler zur Feierstunde ihre noch immer währende Achtung und Dankbarkeit gezeigt haben. Nach meinem Empfinden ehrt der Landesfrauenrat aber nicht nur die jahrzehntelange Arbeit meiner Großmutter, sondern auch die ihrer Mitarbeiterinnen, die ebenso fleißig und engagiert tätig waren. Meine Großmutter, da bin ich mir sicher, hätte mir zugestimmt.

Heike Pitsch

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