30 Jahre „Fami“ in Radebeul – eine Chronik (1. Teil)

„Es kommt immer auf die Haltung zu den Dingen an. Der Garten und die Kultur hier in Radebeul sind wunderbar. Ich bin froh, dass wir auch neue Bekannte haben, durch die Galerie und durch die Gemeinde und uns nicht abkapseln“, so mein Tagebuch von 1986. Wir wohnten als Familie in zwei Zimmern mit Ofenheizung unter dem Dach, Bad und Küchenbenutzung gab es gemeinsam mit der mit der über 80-jährigen Tante im Erdgeschoss. Ich wollte nicht zu „den kleinen Muttis mit den großen Kaltwellen“ gehören, wie mir 1987 beim Konzert „Vorsicht Frau“ mit Barbara Thalheim in Meißen klar wurde. Unsere Feste waren legendär, es gab Dreitagesfeste in den Gärten mit Nachbarn und allen Kindern. Im Sommer war dies kein Problem, nur auf Regen waren wir nicht eingestellt. So musste schon mal der Dachboden mit Matratzen ausgelegt werden, Blumen kamen in die Mitte und alle hatten Platz. Puppenspiele, viele Kerzen und Musik machten die Abende unterhaltsam, auch Familienfeste, Taufen und Geburtstage. Schwieriger waren die Winter. Wenn mich meine Nachbarinnen besuchten, waren wir drei Mütter und 9 Kinder, die sich in einem kleinen, mit Kanonenofen beheizten Zimmer, trafen. Die Unzufriedenheit mit dem Stillstand, dem Verfall und der Lethargie wuchs.

Altkötzschenbroda 20, 1991 Foto: Archiv Fami

„Man sagt oft zu wenig, mit der Zeit verliert man auch die Angst, sich über etwas zu beschweren.“ Es reichte auch nicht mehr, sich nur ins Private zurückzuziehen. „Ich habe Angst vor Krieg und völliger Umweltzerstörung und dass ich meine Kinder nicht schützen kann, das ist der wundeste Punkt…“, so im Januar 1989, die Zuspitzung kam im Sommer: „Es gehört viel Energie dazu in der DDR zu leben. Viele sind resigniert und lassen ihre Wut am Nächsten aus, manche lügen mit und schimpfen zu Hause. Manche hoffen auf den Zusammenbruch, viele gehen weg.“ „Wo führt das alle hin? Ich höre Gospels, draußen schreit ein Käuzchen und die Musik lässt mich seit langem wieder an Gott denken und Frieden kehrt in mir trotz der ganzen Zustände ein.“ 25.8. 89: „Wie lange soll man warten? Wie lange warteten unsere Eltern? Wie lange lebt der Mensch? Wie lange stirbt ein Staat?“ 4.9. 89:„Meine Kraft und mein Frohsinn blättern ab wie alte Farbe.“ 8.10.89: „Die Grenzen sind zu, alle.“ 4. 11.89:„‘Stell dir vor es ist Sozialismus und keiner geht weg ‘, so hörte ich Christa Wolf bei der großen Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz. Es ist eine Zeit wie nie zuvor. Nichts ist veralteter als die Zeitungen von gestern. Kerzen über Kerzen vor den vergitterten Fenstern des Polizeipräsidiums. Gesetz über Reisefreiheit, Gesetz über zivilen Ersatzdienst, neues Bildungs- und neues Justizgesetz in Arbeit. Seit heute Baustopp für das umstrittene Siliziumwerk in Dresden verfügt. Viel Angst-, viel Hoffnung – große Bewegungen.“ 6.11. 89: „Es lebe die Oktoberrevolution 1989!“, war gestern in einem Schaufenster auf unserer Geschäftsstraße (Wilhelm-Pieck-Straße, heute Hauptstraße) zu lesen. Am Tag davor waren wir zu Demonstration gegen das Siliziumwerk in Gittersee in Dresden. Die Demonstration lief unter dem Leitgedanken. ‚Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung‘. Die Lieder einten uns: ‚ We shall overcome‘ oder ‚Wir fassen uns ein Herz und kommen euch entgegen, fürchte dich nicht, wir kommen im Segen‘. Heute standen zum ersten Mal die SO2-Werte der Luft in der Zeitung, sozusagen als ein neues Signal.“ 11.11. 89: „Seit zwei Tagen sind die Grenzen offen. Es ist unbeschreiblich, was sich da abspielt. ‚Bitte nicht auf die Mauer setzen!‘, so klang es heute aus dem Radio vom DDR-Jugendradio. Niemand will es recht glauben, deshalb nutzen die Leute die Chance, im Radio immer wieder die Beteuerung, dass es eine endgültige Lösung sei, Panik im Lande, großes Misstrauen überall… Was für Fesseln fallen von uns ab, was für Tabus werden ausgesprochen…“
27.11.89:“Große Hilflosigkeit, Diffamierungen gegen Künstler. Alle wissen was sie nicht wollen, aber niemand hat ein Konzept für einen Neuanfang.“
17.12. 89:„Langsam beginnt mir der Boden unter den Füßen wegzurutschen. Was man früher flüsterte wurde besser gehört, als wenn man jetzt schreit, es geht unter im allgemeinen Gelärm. So stelle ich mir Schiffbruch vor. Es wird das Leck verheimlicht, ein paar Matrosen stopfen mit Sandsäcken und wer redet wird streng bestraft, angeblich um Panik und Unruhe zu verhindern. Und zum Schluss, wenn das Wasser bis zum Hals steht, rennen alle an Deck und brüllen. Viele sind schon mit den Rettungsboten fort und der Rest versucht zu retten und alles ist ungewiss. Nur sind auf dem Schiff größtenteils die Alten, Kranken, Frauen und Kinder geblieben.“
Ich war damals 26 Jahre alt, hatte drei Kinder und war mit der jüngsten Tochter noch im Erziehungsurlaub, wie es damals hieß, Arbeitslosigkeit drohte.
Bei einer Veranstaltung in der Friedenskirche Radebeul wurde zu Arbeitsgruppen des Neuen Forums aufgerufen. Mir sind Pfarrer Salzmann und Pfarrer Gehrt als mutige Pfarrer in den Zeiten des Umbruchs im Gedächtnis geblieben. Elisabeth Kurth rief zu einer Gruppe des Neuen Forums AG Bildung-Gruppe Baby-auf. Wir trafen uns in verschiedenen Wohnungen und Gärten und überlegten, wie wir unser Ideen umsetzen können.
Im Februar 1990 startete ich einen Aufruf im „Informationsdienst Neues Forum Radebeul“: „Wer hilft beim Aufbau eines Öko-Cafe’s?“, „Familien mit kleinen Kindern, Rentner, Ausländer, alleinerziehende Eltern, oder Eltern, die ihre Kinder in den ersten Lebensjahren zu Hause betreuen möchten, werden in verstärktem Maße die sich weiter zuspitzenden sozialen Spannungen zu spüren haben. Um dem zu begegnen planen wir den Aufbau eine Öko-Cafe’s, welches helfen soll in informativer, beratender und praktischer Funktion diesen Problemen beizukommen.“
Drei Punkte stellten wir uns vor: 1. Ein Familienkaffee, wo Kinder nicht stören. „Es wäre vielleicht die einzige Gaststätte in Radebeul mit Kinderspielplatz und ohne Konsumzwang.“
2. Eine Bibliothek und Vorträge, sowie die Möglichkeit für kreative Arbeit und 3. einen Laden, in dem die Theorie in die Praxis umgesetzt werden kann, indem “ gesunde Nahrung, handgefertigte Bekleidung, sinnvolles Spielzeug, Bücher usw.“ verkauft werden können.

Gründungsmitglieder mit Familien, 1999 Foto: Archiv Fami

Es hieß, wir müssten einen Verein gründen, sonst kämen wir zu gar nichts. Uns war das fremd und von zwangsweisen Gruppen hatten wir eigentlich genug. Schließlich beschlossen wir genau dies am 8. März 1990 in unserer Wohnung. Es war der Internationalen Frauentag, was uns damals nicht bewusst war. Mitglieder der „Sozialinitiative“ waren Barbara Plänitz, Kathrin Wallrabe, Ulrike Tietze, Elisabeth Kurth, Ines Kluge, Gabi Hoppe, Christine Wagner, Dorothee Altus, Regina Riedel, Barbara Zehme, Renate Lempe, Alexandra Söhnel, Jana Graedtke, Kerstin Engler , Roland und Evi Hennig. Im Landkreis wurden wir als Verein Nr. 26 eingetragen und waren damit einer der ersten Vereine, die offizielle Gründung wurde auf den 2. April 1990 gelegt. Einige kannten sich bereits aus der Stillgruppe um Barbara Plänitz und aus dem Friedenskreis.
Zunächst trafen wir uns in den Räumen des Neuen Forums auf der Eduard-Bilz-Straße 7, richteten dort Büro und Spielkreis ein, beantragten Gelder für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) und Sachmittel, luden zum Spielkreis ein und boten Vorträge in der Kleinen Galerie an. Wir kauften Bücher für unsere Bibliothek von „Ronja Räubertochter“ bis „ Love and Sex“, war alles dabei. Es wurde zu eng und zu laut für die Mitnutzer der Büros, also zogen wir mit dem Spielkreis in den Hort auf die Marienstraße. Auch dort passten wir nicht ins Konzept und wurden von der Friedenskirchgemeinde Radebeul aufgenommen. Wir suchten dringend eine eigene Bleibe. Karin Gerhard, Leiterin der Stadtgalerie, gab mir den Tipp, dass im Sanierungsgebiet Altkötzschenbroda noch das Haus Nr. 20 zum Verkauf stünde, eine Ruine mit Außenklo. Wir waren begeistert. Doch bald stellte sich heraus, dass das Haus sowohl uns, als auch den katholischen Frauen zur Errichtung eines Frauenschutzhauses, angeboten worden war. Nach etlichen Verhandlungen wurde uns das Haus von der Stadt zum Kauf angeboten. Wir hatten viel Mut, aber kein Geld. Am 18.04.1991 stellten wir den Kaufantrag bei der Stadt, die uns das Grundstück zu einem Vorzugspreis verkaufen wollte, was damals 15 DM pro Quadratmeter bedeutete. Regina Riedel, Ines Jurak und ich konnten diese Konditionen mit Herrn Freudental aushandeln (21. 10. 91). Das Landratsamt widersprach dem und verlangte den Verkehrswert, die Stadt einigte sich nach energischer Intervention unsererseits mit dem Landratsamt und das Grundstück wurde uns verkauft (17.02.1992/Notartermin) und später in das Sanierungsgebiet Altkötzschenbroda integriert (Nr. 7 in AK).

Kathrin Wallrabe

(Fortsetzung im nächsten Heft)

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Ein Kommentar

  1. Veröffentlicht am Mo, 2. Mrz. 2020 um 06:58 | Permanenter Link

    Liebe Kathrin Wallrabe, die Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs war schön und schrecklich zugleich, war mit Abbruch und Aufbruch verbunden. Neues konnte entstehen. Chancen wurden genutzt. Zu erfahren, was, warum und wie begann, ist auch noch nach 30 Jahren wichtig und interessant. Besonders die Passage „Was man früher flüsterte wurde besser gehört, als wenn man jetzt schreit, es geht unter im allgemeinen Gelärm.“ hat mich sehr nachdenklich gestimmt. Ist es doch für viele Menschen ein ganz akutes Problem, nicht gehört zu werden. Danke für Deinen Beitrag, der durch die Tagebuchauszüge sehr authentisch wirkt. Ich freue mich schon auf den zweiten Teil. Herzlich Karin Baum

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