Holzzierrat an Dachkanten von bestimmten historischen Häusern
Mir war schon klar, dass, wenn ich mich einer größeren chirurgischen Operation unterziehe, meine Arbeit in der Redaktion von V+R und auch an eigenen Artikeln für das Heft für mindestens ein Viertel Jahr ruhen müsse. So geschehen im Januar 2020 (Gruß und Dank an meinen Operateur, einem Vorschauleser) bin ich jetzt auf dem Wege der Besserung. Noch während ich an Stöcken ging, überlegte ich, mit welchem Thema ich den Wiedereinstieg bei V+R beginnen könnte. Doch dann kam auch in unserem Land die Corona-Pandemie an mit all ihren Einschränkungen, Vorschriften und Verboten und nichts ging mehr – kein Besuch im Stadtarchiv, kein Kontakt zu Hauseigentümern möglich und schließlich war auch meine Bewegung zum Fotografieren innerhalb Radebeuls eingeschränkt. Alles in allem schlechte Bedingungen für einen Neustart, aber Lust hatte ich schon!
Mein Thema, was ich unter diesen Bedingungen bearbeiten wollte, war Holzzierrat (außer Fachwerk) an vorwiegend Niederlößnitzer Häusern, Denkmalen und Nichtdenkmalen gleichermaßen, also Schmuckformen an Trauf- und Giebelseiten sowie den Firsten. Dabei wollte und konnte ich hier keine Vollständigkeit anstreben. In gewisser Weise handelt es sich um die thematische Vertiefung meines Aufsatzes über Schweizerhäuser (sh. V+R 04/18).
In dieser Bauepoche (1860-1900) wurde von geschickten Zimmerleuten auffallend viel derartiger, sehenswerter Holzzierrat an Schweizerhäuser und denen, die diesen ähneln sowie an Villen und Mietvillen angebracht. Man muss leider in der Vergangenheit sprechen, denn Vieles davon ging über die Jahre bei Dachreparaturen oder Modernisierungen der Häuser verloren. Da, wo sich hölzerner Zierrat noch original erhalten hat, steckt meist ein kulturbewusster Bauherr oder Bauherrin dahinter, die den Wert erkannt haben und sagen: nur damit ist es „mein Haus“! Aus anderem Blickwinkel könnte die Frage kommen, braucht ein Haus solchen Zierrat überhaupt. Die Antwort wäre „nein“, denn das Dach sollte auch ohne Zierrat dicht und das Haus nutzbar sein. Nur ein Haus dieser Bauepoche hatte einen gestalterischen Anspruch auf solchen Zierrat oder Luxus, wenn man es so bezeichnen wollte. Eine Voraussetzung für diese Zierelemente, die ich nachfolgend in drei Gruppen gliedern möchte, ist ein weiter Dachüberstand (0,50m oder mehr) an allen Dachkanten eines Satteldaches. Mein Hinweis an die Leserschaft: Augen auf beim nächsten Spaziergang, dann werden sie sicherlich Beispiele dieses hölzernen Zierrates finden können.
1. Hängende hölzerne Dachzier
Seltener, aber besonders auffallend sind die längeren (0,30 – 0,50m) zugespitzten und / oder mit Löchern versehenen, an Eiszapfen erinnernden Elemente unter den Traufen und an den Giebelkanten von Schweizerhäusern. Sie können in Reihe dicht aufeinander folgend oder auch mit größeren, gleichmäßigen Abständen angeordnet sein – Beispiele finden wir u.a. in der Wilhelm-, Schweizer – oder der Schuchstraße. In der Regel
haben sie einen dunklen, meist braunen Anstrich wie die sichtbaren Teile des Dachstuhls, seltener sah ich auch helle Farben. An Stellen wie oben finden wir Brettlängen, die an der Unterkante Zacken und Formen zeigen, die an Laubsägearbeiten oder eine textile Bordüre erinnern, jedoch vom Zimmermann gesägt wurden. Es sind filigrane Arbeiten dieses Gewerks, die bei entsprechendem Sonnenstand ein hübsches Schattenbild auf der Wand erzeugen können. Solche kleinere hängende Dachzier finden wir an Niederlößnitzer Landhäusern noch öfter, sogar an Dachkanten bestimmter Gaupen.
2. Luftige Giebelzier aus Balken
Diese finden wir außer an Schweizerhäusern auch an verschiedenen Radebeuler Villen. Balken, wie Pfetten oder Sparren, sieht man normalerweise bis auf die z.T. auch verzierten Köpfe unter der Traufe nur im Bodenraum der Häuser. Eine Ausnahme bilden die sogenannten „Flugpfetten“ oder „Flugsparren“, je nach Grundprinzip der Dachkonstruktion (es werden noch ein paar Fachausdrücke, z.T. sinnbildliche Ausdrücke der Zimmermannssprache, folgen, die ich mit Anführungszeichen versehen will), die so heißen, weil sie nicht direkt auf Mauerwerk aufliegen und in Gänze sichtbar sind. Zu den „Flugpfetten“ gesellt sich in manchen Fällen noch ein von außen sichtbarer Kehlbalken, als horizontaler Balken zwischen den Pfetten. Manchmal ist unter dem Kehlbalken noch ein halbkreisförmig gebogener oder aus Stücken zusammengesetzter Balken eingebaut, der auf Stützkonsolen vor der Giebelwand befestigt ist. Das Ganze wird auch als „Gesprenge“
bezeichnet, ist aber nicht explosiv! Natürlich haben auch diese Balken, je nach Sonnenstand, ein interessantes Schattenspiel, quasi eine optische Verdopplung des „Gesprenges“. Der Bogen bleibt immer offen, weil dahinter ein oder zwei Fenster in der Giebelwand des Dachgeschosses liegen, die Zwickel jedoch sind von Fall zu Fall auch verkleidet. Das erfolgte entweder durch senkrechte Brettverkleidung oder durch Holztafeln mit kunstvollen Aussparungen als geometrische Gebilde, als Blütenformen oder Fabelwesen – gut anzuschauen an der Kreuzung von Karl-Liebknecht-Str. / Ledenweg. Eine statische Funktion haben diese „Gesprenge“ nicht, sie müssen sich nur selber tragen. In diesem Bereich finden wir gelegentlich auch ein in der 1. Gruppe vorgestelltes Zierelement wieder: zapfenartige Gehänge, die die aus dem Mauerwerk herausragenden Kopfhölzer frontal abdecken.
3. Aufragender hölzerner Dachschmuck
Von dieser Gruppe haben die wenigsten Zierformen die etwa 150-jährige Standzeit der Häuser überdauert. Wahrscheinlich, weil sie am höchsten Punkt der Häuser dem stärksten Wind und Wetter ausgesetzt und am schnellsten verschlissen waren. Hinzu kam, dass bei Dachreparaturen die Handwerker diesen Schmuckformen kaum Beachtung schenkten und Bauherren an der Stelle gerne Geld sparten. Als Kind habe ich um 1960 eine Diskussion erlebt, als mein Elternhaus in der Einsteinstraße in der Folge gleich drei „Kaiser“ von den Dachfirsten verlor. Der im Fachjargon übliche Name „Kaiser“ ist wohl dadurch entstanden, dass es sich um eine Zierde ganz oben auf dem Haus handelte, ebenso wie man sich einen lebendigen Kaiser als Obersten im Staat vorstellte.
Ich habe auch solche „Kaiser“ gesehen, die entweder auf der Firstspitze saßen oder den Firstpunkt durchdrungen haben und im Kehlbalken verankert waren. Der ca. 1m hohe Pfahl über dem Dach verjüngt sich nach oben zu einer Spitze und trägt etwa in der Mitte eine horizontale, quadratische Holzplatte mit flacher Verdachung. An Stelle der „Kaiser“ gibt es gelegentlich auch andere Bekrönungen in Form von durchbrochenen, spitz zulaufenden Holzplatten oder „Ohren“ die aus stilisierten Akanthusblättern entwickelt wurden (siehe mittlere Eduard-Bilz-Str.). Meines Wissens gibt es in Radebeul nur noch zwei richtige „Kaiser“ an der Villa „Perle“ neben dem Paulsberg und auf der Mittleren Bergstraße 49.
Der erstgenannte „Kaiser“ wurde aber durch untypische Elemente „bereichert“ – eine aufgesetzte Wetterfahne und sich über dem First kreuzende „Flugsparren“, wohl eine stilistische Anleihe aus dem deutschen Norden. An einer anderen Villa in der Weintraubenstraße finden wir noch die Reste von mehreren „Kaisern“, wo die horizontalen Platten seit Langem fehlen. Die Antwort auf die in der Überschrift geäußerte Frage lautet also: ja, es gibt noch zwei richtige „Kaiser“ in Radebeul, diese aber scheinen in unserer Demokratie die Letzten zu sein.
Dietrich Lohse