Selbstversuch mit Überraschung
Die vornehmste Aufgabe dieser Tage heißt Kontakt zu halten ohne Kontakt zu haben. Das Zauberwort dafür heißt: Videokonferenz.
Es gibt Menschen, sogar in meiner unmittelbaren Umgebung gibt es die, die schwören drauf wie früher auf die Bibel. Das spart Wege, sagen sie; da wird nicht mehr so viel palavert, sagen sie; da fallen die lästigen Handreichungen weg, sagen sie; da sparen die Gastgeber Mineralwasser, sagen sie; und sie sagen sonst noch so manches, wenn der Tag lang und die Konferenz vorbei ist.
Du kannst dich, sage ich schließlich zu mir selber, du kannst dich dem Fortschritt nicht auf Dauer verschließen, sonst sind eines Tages die anderen alle fort geschritten, und nur du bist, also ich bin noch hier – ganz alleine sozusagen, und die Kneipe ist auch zu. Also, sage ich mir, stell dich nicht so an, sage ich mir, nimm Anlauf und spring, so hoch ist sie vielleicht gar nicht, die Ekelschranke.
Gesagt getan.
Das erste Mal will gut vorbereitet sein. Da rufe ich also zuerst den Gastwirt meines Vertrauens an, um ihn in dasselbe zu ziehen. Ein virtuelles Treffen in deiner Kneipe, sage ich, als wir uns in gebührendem Abstand gegenüber stehen, nur eben am Fernseher. Du stehst, sage ich, wie früher hinterm Tresen und spülst Gläser. Ich komme rein, setze mich auf meinen Stammplatz ganz rechts, wie früher, und du stellst mir wie früher ein Bier hin – und alles virtuell im Fernsehn, und prost, sage ich.
Der Wirt, der mich schon so lange kennt, wie ich ihn, blickt mich lange an, ohne auch nur eine Minute an meinem Verstande zu zweifeln. Am Verstand der Schulämter, die Fernunterricht per dings für machbar halten, zweifelt schließlich auch keiner. Okay, sagt er dann, das machen wir – und gibt mir auch schon einen Zugangskot durch…
Drei Tage später ist es dann so weit.
Da ich, wie früher, ein paar Minuten zu früh bin, sehe ich noch eine Person auf meinem Platz hocken, ein Persönchen eher, das schnell zur Seite huscht, allerdings nicht, ohne mir einen neugierig vielsagenden Blick zuzuwerfen. Unvergeßlich, der Blick – die Augen, also, ich bin ja nicht so schnell, und ich hänge auch nicht am Detail, das Gesamte macht das Einzelne vollkommen – und umgekehrt.
Doppelt verwirrt – schließlich trete ich zum ersten Mal in meinem Leben durch den Fernseher in ein Lokal – grüße ich etwas verhalten den Wirt, die übliche Umarmung fällt natürlich auch weg, und dann tue ich so, als setzte ich mich auf den virtuellen Hocker. Da steht auch schon das Bier vor mir, ein schönes, frisch gezapftes – wie früher…
Nur – das trockene Gefühl unter der Zunge will nicht weggehen, und das virtuelle Bier läßt sich nicht mal virtuell wegnehmen: Es steht und steht und wird ganz real – schal.
Also, das ist nicht mein Weg. Sollen sie schreiten wohin sie wollen, die virtuelle Realität – schon der Begriff ist ein Monster, denn das eine schließt das andere aus – ist mir viel zu trocken. Wäre da, ja, wäre da Ulrike nicht, Ulrike mit dem neugierigen Blick. Es wäre einfach schade, wenn auch sie einfach fort schritte. Denn sie hat nicht nur schöne Augen, sie könnte es vielleicht sogar schaffen, daß Sonja irgendwann nicht mehr alleiniges Stadtgespräch ist …
Thomas Gerlach