Brachlandgärtner im Waldpark Radebeul
Die Umstände der Kleingartenanlage „Am Waldrand“ sind ein Stück exterritoriale Radebeuler Geschichte. Mit gegenwärtig 271 Parzellen auf einer Fläche von neun Hektar handelt es sich um die viertgrößte der 360 der im Stadtverband Dresdner Gartenfreunde organisierten Gartenanlagen. Der im Register eingetragene Vereinssitz liegt außerhalb der Anlage mitten in der Jungen Heide auf dem Sternweg. Postsendungen allerdings erreichen den Verein über die Radebeuler Adresse Anne-Frank-Straße 15. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhundert wurde die Fläche von einem Waldpark eingenommen, dessen wechselvolle Geschichte einmal ein eigenen Beitrag in diesem Heft verdiente.
Das Grundstück gehört seit der Eingemeindung der Dresdner Heide samt Junger Heide und Heller im Jahr 1949 zu Dresden. Zuvor war es Teil des königlichen bzw. Staatsforst. In den vierziger Jahren wurde der gesamten Park für einige Jahre der Stadt Radebeul zugeschlagen. Die größere Hälfte der Pächter der Gartenanlage ist spätestens seit Entstehung der ihr unmittelbar benachbarten Genossenschaftswohnhäuser auf der seit 1965 so bezeichneten Anne-Frank-Straße in Radebeul anzutreffen. Nach der Auflösung des DDR-Verbandes suchte der neu gegründete Verein Anschluss an den Kreisverband Dresden Land. Mit der Kreisreform entschied er sich 2001 Mitglied im Dresdner Stadtverband zu werden um dann gut zwanzig Jahre später im Juni 2020 vom Oberbürgermeister Dirk Hilbig den Preis der schönsten Anlage Dresdens zugesprochen zu bekommen.
Die Pächter einer Dresdner Kleingartenanlage haben auf der Dresdner Seite nur Eichhörnchen und Buchfinken zu Gesellen, während ihre urbane Nachbarschaft hinter der Stadtgrenze durch Industriebetriebe und Wohnhausbau von Radebeul geprägt ist. Die Gärten am Waldrand sind dadurch ebenso oder vielmehr noch Gärten am Stadtrand.
Die Nähe zum Industrieviertel und die Gemeinschaftsfläche im Zentrum der Anlage lassen auf den ersten Blick vermuten, dass diese direkt aus den Reformwerk der Naturapostel Schreber und Hauschild während der ersten Industrialisierung des jungen Deutschen Reiches herrührt. Doch ist sie erst ein Halbjahrhundert nach dem Aufbruch zu Licht und Sonne aus dem Zusammenbruch dieses Reiches hervorgegangen. Ein alter Grieche bezeichnete den Krieg als Vater aller Dinge. Die Kleingartenanlage Am Waldrand wurde tatsächlich vom Krieg gezeugt und aus der Not geboren. Kälte, Hunger und der Mangel an Wohnraum standen an ihrer Wiege. Diese Umstände klingen an in der Aufforderung, die der Oberbürgermeister Rudolf Friedrichs am 30. Mai 1945 an die Dresdner richtete: „Wir müssen verhungern, wenn wir uns nicht selbst helfen. Alles verfügbares Land, einschließlich geeigneter Rasenflächen, ist sofort mit Kartoffeln, Kohl und Gemüse zu bebauen.“
Als eine geeigneten Fläche für die Trachauer und Radebeuler wurde damals der Waldpark angesehen. Unter den wenigen Dokumenten im Vereinsarchiv, die aus der Anfangszeit herrühren, ist das handschriftliche Abrechnungsbuch der Kleingartenstelle der Stadt Radebeul für die Ausgabe der Brachlandausweise auf dem Gebiet des Waldparks sicher das kostbarste. Während des Ringens um Selbstbehauptung der
Kleingärtner blieb wenig Zeit für Traditionspflege. Es ist dem vorigen Chronisten Gerhard Müller kaum genug zu danken, dass er vor über zwanzig Jahren eine Veteranin der Anlage zur Niederschrift ihrer persönlichen Erinnerung an die Anfangszeit bewegen konnte. Ruth Obst hat im August 2000 Folgendes für die Chronik festgehalten: „Noch 1945/46 war das ganze jetzige Gartengelände Wald. Wo heute der Kindergarten ist, die Häuser der Anne-Frank-Straße stehen. Bis zur Meißner- u. Forststraße war dichter Hochwald mit Spazierwegen und einer Schutzhütte für Regen. Zwischen Tennisplatz u. Diebsteig war es reiner Birkenwald. In den Nachkriegswintern diente dieser uns als Kohlenersatz. Nachts zogen wir, meine Mutter und ich mit dem Leiterwagen, Säge u. Axt und mit noch anderen Bürgern verschwanden nach und nach die Birken im Ofen. Anschließend rodeten wir die Stubben und bauten das erste Gemüse an. Das Land gehörte Radebeul. Es wurde später in Parzellen aufgeteilt. (…) Lauben gab es damals nicht, wir hatten eine lange Kiste zum Aufbewahren der Gartengeräte und meine Mutter benutzte einen alten Kleiderschrank. Wir bauten anfangs Kartoffeln, Möhren und Kohl an, letztere waren besonders groß. Nachdem der ganze Stadtwald über dem Diebsteig vom Forst gefällt war, setzte die rasche Gestaltung der Gartensparte ein. Gut dreißig Jahre diente uns der Garten, im wesentlichen unsere Ernährung zu sichern, während er uns jetzt mehr der Erholung und Freizeit dient.“ Neben den genannten Kulturen wurde vor allem Mohn als Ölfrucht, Getreide im Tiefpflanzverfahren, Tomaten und Tabak in den ersten Jahren nach dem Krieg angebaut. Es war nicht einfach der Heidesandterrasse nennenswerte Erträge abzuringen. Das Wasser mußte mit dem Handwagen Fassweise vom Brunnen an der Einsteinstraße und einem Wasserhahn an der Gleisschleife herbeigeschafft werden.
Während die meisten Brachland-Bewirtschaftungen später wieder anderen Nutzungen zugeführt wurden, erreichten die Gärtner am Waldrand die offizielle Sanktionierung ihrer Dauerkleingartenanlage. Zu Beginn des Jahres 1950 reisten zwei der Radebeuler Brachlandgärtner gemeinsam mit der Ehefrau eines dritten Gartenfreundes nach Berlin. Beim Zentralvorstand des FDGB erreichen sie die dauerhafte Anerkennung als Kleingartenanlage. Dieses Ergebnis fällt zusammen mit einem ersten Aufleben kleingärtnerischer Aktivitäten in der jungen DDR. Der zwischen Dichterviertel und Heiderand gelegene KGV „Clara Zetkin“ wurde nach Auskunft des Vereinsvorsitzenden ebenfalls damals genehmigt. Das Vereinsregister verzeichnet am 27. Februar 1951 die Eintragung der Kleingartenhilfe des FDGB, Kreis Dresden. Das schöne Radebeul wurde gleich zum Treffpunkt der wiedererstandenen sächsischen Kleingärtner. Im Lößnitzgrund feierten sie ihr Frühlingsfest. Es werden gemeinsame Dampferfahrten auf der Elbe unternommen. Die 1. Landesdelegiertenkonferenz des Landverbandes Sachsen fand am 1. April des Jahres in Dresden statt. Dabei wird die Absicht formuliert, sich für die „Errichtung von Dauerkleingartenanlagen“ einzusetzen. Am 5. Mai kommt der Vertrag mit dem Land Sachsen – Ministerium für Land- und Forstwirtschaft, HA Forstwirtschaft, Zweigstelle Kreisforstamt Dresden Abteilung 268 zustande. Darin werden zehn Hektar als Brachland rückwirkend ab 1. Oktober 1950 verpachtet an die Kleingartenhilfe e. V. „Am Waldrand“. Im September 1951 wurde in der Festhalle in Kötzschenbroda eine Kleingartenleistungsschau veranstaltet.
In Meißen gründeten sich am 26. Oktober 1952 die Bezirksverbände Leipzig, Chemnitz und Dresden der sächsischen Kleingärtner und Siedler. Mit einer fast gespenstischen Hellseherei gewährt das Kreisforstamt 1955 den Radebeuler Kleingärtnern eine Vertragsverlängerung bis in das Jahr 1989, also exakt bis zum Ende des SED-Staates. Die ersten Lauben entstehen 1957. Kleine Häuser mit Keller, Dachboden und Kamin werden als Hauptwohnsitz genutzt und von Postboten und mit Müllabfuhr bedient. Im Jahr darauf wird das Vereinsheim erbaut und im Laufe der Jahre immer wieder erweitert und umgebaut. Der Zentralverband VKSK (Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter) wird erst 1959 in Leipzig gegründet. Dies war bis dahin von ganz Oben immer wieder aufgehalten worden. Es beunruhigte die verantwortlichen Genossen zutiefst, auf einen Schlag einer unpolitische Massenorganisation gegenüberzustehen, die es an Mitgliederstärke mit der SED aufnehmen konnte. Erst die Erfahrung, dass die Kreisverbände sich mit Züchterkollegen und Gartenfreuden über die innerdeutsche Grenze austauschten und eingesetzte Funktionäre nicht durch Wahl bestätigt wurden, ließ sie die Zentralisierung des Kleingartenwesen endgültig in Angriff nehmen.
Tatsächlich aber lassen selbst Mitgliedschaften in den sozialistischen Massenorganisationen, wie sie hinter den Namen einiger Mitglieder im alten Pächterverzeichnis zu finden sind, kaum Rückschlüsse über die Haltung der Betreffenden zu. Die Kleingärtnerei rankte sich wie ein geheimer Orden durch alle Gesellschaftsgruppen. Vielleicht ist sie sogar der einzige Bereich des öffentlichen Lebens in dem jemals in neuerer Zeit ein Sozialismus verwirklicht wurde, der im Guten wie im Schlechten ein menschliches Antlitz trug. Nicht selten mag die Verbundenheit mit dem Gartennachbar größer gewesen sein als die Folgsamkeit gegenüber einer im fernen Berlin ausgegebenen Parteidoktrin. Anstatt ihre Laubenpieper politisch auf Linie zu bringen, hatten sie sich als Agenten der Kleingärtnerei in den Parteiapparat eingeschlichen, wo sie Materialbeschaffungen und Genehmigungen für ihre Anlagen organisierten. Die Wasserleitung, die vom Sportplatz der BSG Chemie gelegt wurde, hat ihre Entstehung solchem Wirken zu verdanken. Als in den sechziger Jahren das Filmtheater Union ein Freilichtkino am Vereinsplatz errichtet, ergibt sich die Möglichkeit eines Stromanschlusses für die Parzellen. Dafür musste es hingenommen werden, dass der Lärm der Filmhandlungen laue Sommernächte durchdringt. Sirenen heulten auf. Autos quietschten. Hubschrauber rauschten vorbei. Trockene Schüsse durchpeitschten die Stille. Erstickten Schreie waren zu vernehmen. Diese aufgezwungenen Hörspiele am Heiderand hatten durchaus surreale Qualitäten. Die Gärtner konnten aber auch gratis als Zaungäste von ihren mitgebrachten Klappstühlen auf dem angrenzenden Geierweg damals sehr attraktive Filme sehen wie: „Fleisch“ (BRD, 1979), „Ein Teufelskerl“(AUS, NZ, 1981) oder „Linie 1“ (BRD, 1988).
Sebastian Hennig
Hinweis: Ergänzendes zum Freilichtkino auf dem Vereinsplatz im Beitrag „Von Stummfilmkino bis Kurzfilmnacht“, Heft 7/2020