Schönste Kleingartenanlage Dresdens in Radebeul?
In der Überschau wirkt die Anlage „Am Waldrand“ wie eine weiträumige Lichtung, die an drei Seiten von hochgewachsenen Parkbäumen und Waldsäumen umgeben ist. Besonders abends kommt diese Lage zur Geltung, wenn das Aufflammen der Kiefernstämme des Heiderands im Abendrot eine ergreifende Stimmung erzeugt, während in naher Ferne die Elbtalhänge der Oberlößnitz mit Spitzhaus und Bismarckturm am Horizont in der Dämmerung versinken. Doch das Gefühl der landschaftlichen Geborgenheit wird perforiert vom Rauschen der Autobahn, die hinter dem dünnen Waldstreifen nur wenige Gehminuten entfernt verläuft. Sie schlägt eine akustische Wunde in die Landschaft, die sich nie schließen will. Eine Schallschutzwand auf der Dresdener Seite steigert nur die Pein. Gegen das unablässige Brausen der Lastwagen vermögen die Vögel nicht anzusingen.
Was einem früher vom nahen Industriegebiet in die Nase gefahren ist, das dröhnt einem heute im Ohr: akustische Umweltverschmutzung.
Mit dem Bau des Vereinsheimes „Am Waldrand“ war die Anlage 1958 stabilisiert. In jenen Jahren entstanden auch die meisten privaten Bauten in den Parzellen. Nach einem Bauplan, der auf den 1. September 1958 datiert ist, errichtete der Gartenfreund Kurt Stöhr seine feste Laube. Die Trümmerziegel wurden mit Karbidschlamm aufgesetzt, der im Dresdner Industriegebiet nördlich des Bahnhof Neustadt beschafft wurde. Die Parzelle auf dem Adlerweg wird heute noch von Herrn Stöhrs Tochter und ihrem Mann genutzt. Dieser, selbst im Baugewerbe tätig, erweiterte die Laube 1982 zum Gartenhaus. Zu dieser Zeit hatte sich die offizielle Einstellung zu den Kleingärtnern gewandelt. War ihnen in der frühen DDR mit Argwohn begegnet worden, so hatte sich das Verhältnis um 180 Grad gedreht. Isolde Dietrich kommt in ihrer Studie über die Kleingärtner in der DDR „Hammer Zirkel Gartenzaun“ zu folgender Feststellung: „Am Ende war die DDR ein Kleingärtnerparadies. Das Kleingartenwesen genoss umfassende staatliche Förderung und das Wohlwollen der Öffentlichkeit. Von 13,5 Millionen erwachsenen DDR-Bürgern waren 1989 mehr als 1,2 Millionen organisierte Kleingärtner – nicht eingerechnet ihre Angehörigen und Freunde, auch nicht die Nutzer von Erholungsgrundstücken, deren Anzahl noch wesentlich höher lag. 855 000 Parzellen mit rund 37 000 Hektar Land befanden sich in Kleingärtnerhand. … In der DDR hatte – mit Ausnahme des Fernsehens – keine andere Freizeitbeschäftigung derart hohe Zuwachsraten wie die Gartenarbeit.“ Unter Erich Honecker wurde das Kleingartenwesen ab 1977 per Parteitagsbeschluss gefördert. Das schlägt sich auch in den spärlichen Dokumenten nieder, die aus jenen Jahren in der Gartensparte „Am Waldrand“ erhalten geblieben sind. Ein Arbeitsplan für das Jahr 1979 verzeichnet eine Abnahmevereinbarung mit dem Gemüsehandel auf der Karl-Marx-Straße, die selbst für kleinste Mengen galt. Was der Gartenfreund nicht selbst verzehrte, verarbeitete oder in Familie und Freundeskreis weiterreichte, wurde ihm zu Ankaufspreisen bedingungslos abgenommen, die oftmals weit über den Endverkaufspreisen im Laden lagen. Im Dezember 1981 wird die Radebeuler Kleingartenanlage als „Anerkanntes Naherholungsgebiet“ eingestuft. Vereinsfeste fanden bis zum Ende der DDR jährlich auf dem Gemeinschaftsplatz „Am Waldrand“ statt. Sie waren vor allem für die zahlreichen Kinder in der Sparte ein Erlebnis. Mancher erinnert sich vielleicht an die hektografierten Zettel mit den abschneidbaren Coupons am Rand, die eines Tages an der Laubentür hingen und jedem Kind unentgeltlich Imbiss und Getränke, die Teilnahme an Spielen und Gewinne in Aussicht stellten. Aber in der persönlichen Erinnerung werden nicht die Bockwürste, Limonaden und Eiscremes aufbewahrt, sondern eher die Ausgelassenheit beim Sackhüpfen oder das Emporklettern an einer Stange, an deren oberem Ende ein Reifen befestigt war, von dem Süßig- und Kleinigkeiten abgerissen werden konnten. Der damalige Arbeitseinsatzleiter Georg Sülz zog zu diesen Festen Akkordeon spielend, wie ein zweiter Rattenfänger von Hameln, mit den Kindern durch die Anlage.
Als sich der VKSK (Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter) mit Wirkung zum Jahresende 1990 auflöste, hatte sich der Kleingartenverein „Am Waldrand“ bereits vorsorglich am 18. September 1990 nach den nun gängigen Spielregeln neugegründet. Doch die Aufmerksamkeit für die liebevoll ausgebauten Kleingärten mit ihren Lauben, die zum Teil schon Dimensionen von Wochenendhäusern hatten, ging nun zurück zugunsten der Reiselust. Es wurde nun nachgeholt, was sich in der BRD bereits in den siebziger Jahren vollzogen hatte. Hartwig Stein überschreibt das letzte Kapitel seines Buchs „Inseln im Häusermeer“: „Von Robinson zum „Robinson Club“ oder Wie die „Eingeborenen von Trizonesien“ die „Inseln im Häusermeer“ verließen und auswanderten.“ Nun wurden auch in Radebeul aus Strategen der Bodenverbesserung und Ernteverfrühung, Ziervogel- und Rassekaninchenzüchtern erlebnishungrige Weltenbummler. In den Bestimmungen des Bundeskleingartengesetzes war die Kleintierhaltung ohnehin nicht vorgesehen, wenn sie auch per Einigungsvertrag Bestandsschutz genoss. Inzwischen gibt es keinen Kleintierzüchter mehr am Waldrand. Bis zur Kreisgebietsreform war der Verein Mitglied im Kreisverband der Kleingärtner Dresden-Land. Vor dessen Auflösung am 31. Dezember 2001 war der KGV „Am Waldrand“ bereits am 24. Oktober 2001 dem Stadtverband „Dresdner Gartenfreunde“ beigetreten.
Ein Foto aus der Anlage vom Jahr 1990 wirkt heute wie ein bissiger Kommentar: Am Drahtgitter einer Stallanlage mit Dutzenden von Boxen ist das Wahlplakat der damals siegreichen „Allianz für Deutschland“ aus CDU, DSU und DA angebracht. Neben den Stallhasen mit den Alu-Schöpfkelle als Tränke steht dort zu lesen: „Deutschland braucht Freiheit statt Sozialismus“.
Mehr denn je wurden nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Ordnung Lauben aufgebrochen und ausgeraubt, Pflanzen ausgegraben und Verwüstungen in den Gärten angerichtet. Eine Zeitlang sollte diesem Treiben eine nächtliche Patrouille der Gartenfreunde entgegentreten. Es konnte allerdings nie ein Täter inflagranti gestellt werden. Das Vereinsheim musste wegen Baufälligkeit 1994 geschlossen werden. Die Trinkwasserleitungen wurden bis 2000 vollständig erneuert und dabei eine winterfeste Leitung für den ganzjährigen Betrieb in das Vereinsheim gelegt. Seit dessen Wiedereröffnung im Jahr 2000 erfreut sich das Lokal großen Zuspruchs, nicht zuletzt wegen des günstigen Mittagstischs, der wochentags hier angeboten wird.
In vielen Gärten wechselten in den letzten Jahren die Pächter. So gibt es nur noch wenige Zeugen der Anfangsjahre. Viel zu wenige Fragen wurden ihnen gestellt. Wie in fast allen Anlagen wurden auch hier nach der Wende massenhaft Dokumente vernichtet.
Nachdem im Jahr 2002 die Projektionswand sowie die Bänke des Freilichtkinos abgebaut wurden, begann im Herbst 2019, unterstützt mit Fördermitteln der Sparkasse, eine grundlegende Umgestaltung des Vereinsplatzes. Einige Schilder auf den Hauptwegen erzählen inzwischen von der Vorgeschichte des Areals. Mit einem großen Vereinsfest sollte im letzten Jahr das Dreifachjubiläum der Entstehung des Waldparks (1905), der Dauerkleingartenanlage (1950) und der Gründung des Vereins (1990) begangen werden. Daraus ist aus weltweit bekannten Gründen vorerst nichts geworden. Und dennoch sind diese Tage des Abstandes und der verordneten Ruhe wiederum zu Tagen des Kleingartens geworden. Denn als im März 2020 die erste Allgemeinverfügung erlassen wurde, zählte das Aufsuchen des nahegelegenen Kleingartens ausdrücklich zu den triftigen Gründen, die zum Verlassen des Hauses berechtigten.
Wenn auch in kleinerem Rahmen als erhofft, gab es im Sommer doch noch Grund zum feiern. In der „Höhenluft I“ in Döltzschen, der schönsten Dresdner Kleingartenanlage 2019, wurde mit musikalischer Umrahmung durch das Augustin-Quartett der Dresdner Philharmonie und in Beisein des Oberbürgermeisters Dirk Hilbert der Preis für die schönste Kleingartenanlage unter dem Jahresmotto „Kreative Gärten, bunte Vielfalt“ dem damaligen Vorstandsvorsitzenden Ronny Richter stellvertretend für alle Kleingärtner „Am Waldrand“ überreicht. Am landesweiten „Tag des Gartens“ am 13. Juni diesen Jahres wird das Vereinsgelände „Am Waldrand“ nun zum Schauplatz der noch zu ermittelnden schönsten Kleingartenanlage Dresdens 2021 werden.
Aus Anlass des Wettbewerbs bescheinigte Kristian Kaiser von Dresden-Fernsehen in seinem Beitrag dem KGV „Am Waldrand“: „Eine junge und moderne Anlage möchte man hier sein, da pfeift man auch schon mal auf Konventionen, natürlich immer im recht eng gesteckten Rahmen des Bundeskleingartengesetzes.“ Das konventionelle Echo auf dieses Pfeifen war dann noch im Herbst zu vernehmen, als das Virus der Zwietracht im Verein eine kritische Inzidenzdichte erreicht hatte. Mit den Folgen ringt seit Mitte April ein neugewählter Vorstand. Soviel jedenfalls ist jetzt schon sicher: Es ist nicht die erste Krise aus der die Gemeinschaft der Waldrandgärtner gestärkt hervorgehen wird.
Sebastian Hennig