Der Tsunami-Komplex
„Es kommt alles ans Licht, was unterm Schnee begraben wird“.
Sagen wir mal so: Es hat doch endlich wieder mal richtig geschneit im Februar. Der Schnee war vom Saharastaub gelb gefärbt, aber die LKW haben trotzdem reihenweise quer gestanden auf den Autobahnen: Feinstaub bildet zwar Kristallisationskerne für Schneesterne, ist aber deswegen noch lange kein Streugut. Es sind ja dann auch tagelang keine Züge mehr gefahren. Selbst Flugzeuge konnten kaum noch starten und landen. Und trotzdem waren alle traurig, als es aufhörte zu schneien und der ganze Zauber nach einer Woche schon wieder vorbei war: Es hätte noch ewig weiterschneien können. Auf die Dauer sorgt jede Katastrophe für ein regelmäßiges Leben.
Ich habe, doziere ich stolz, mich schon öfter gefragt, ob es nicht so eine unbewußte Furcht gibt vor dem Ende der Katastrophe? Als Hobbypsychologe nenne ich das für mich den „Tsunami-Komplex“, die endzeitliche Hoffnung auf den Supergau, bei gleichzeitigen mühsamen Gegenmaßnahmen.
Du spinnst, sagt Ulrike. Sie darf das sagen, und sie weiß, daß sie das sagen darf: sie kennt meine leicht masochistische Neigung. Außerdem weiß sie auch, wie sie mich wieder einfängt.
Nee, mal im Ernst, sag ich, hast du nicht auch Angst vorm Aufräumen, wenn der Sturm vorüber ist? Tuts dir nicht auch heimlich wohl, wenns einfach weiterstürmt? Und setzt du nicht mit leiser Genugtuung jeden Tag aufs Neue die Maske auf?
Du redest vielleicht einen gelben Schnee zusammen, wenn der Tag lang ist, entrüstet sich Ulrike. Denkst du, es macht mir Spaß, mit diesem Lappen vorm Gesicht durch die Kante zu rennen, bloß weil der ganze Mist ewig nicht aufhört?!
Das war deutlich, Madam! sag ich, aber genau das isses: Warum werden denn immer wieder neue Mutanten gefunden, und wenns keine Tanten mehr sind, sinds Onkels: Die Industrie hat sich umgestellt: die Computerbranche boomt, die Destillerien destillieren Desinfektion … selbst in Mini-Autos werden separate Kabinen eingebaut – willst du Erfindungsreichtum und Kreativität bremsen? Willst du denen allen den Gewinn schmälern?
Nun laß mal die Kirche im Dorf, ruft Ulrike. Einzelne Großverdiener rechtfertigen deinen „Komplex“ noch lange nicht!
Das ist nicht MEIN Komplex! Ich bin dabei, eine Beobachtung zu beschreiben, ganz neutral und an Hand von gelbem Schnee – ohne davon zu reden, daß der verstrahlt war, weil die Franzosen vor zig Jahren Sprengversuche mit Kernwaffen gemacht haben in der Wüste, wos angeblich keinen stört als friedensstiftende Maßnahme – und ich habe der – ich sags noch mal: unbewußten – „Angst vor dem Ende der Katastrophe“ versucht einen Namen zu geben. Ich bin übrigens überzeugt, daß „die Wissenschaft“ dafür längst einen hat. vielleicht erfahre ich den ja auf die Weise.
Ach, „die Wissenschaft“, lacht Ulrike, die bekommet alles raus, wenns sein muß. „Die Wissenschaft“ hat sogar herausgearbeitet, daß die vielen Stoffmasken, die gutwillige Hausfrauen von dem Wunsch beseelt, zu helfen, millionenfach begeistert genäht haben, alle nichts taugen. Und weißt du warum?! Weil niemand dran verdient, aber der Industrie ein Verlust entsteht, wenn jemand was umsonst macht …
Jetzt verschwörst du aber die Theorien, lache ich. Und damit wir uns nicht noch weiter reinsteigern, rede ich gleich weiter, sollten wir, Schnee hin, Schnee her, lieber steigen (ohne hinten mit „r“), und zwar in den Keller, dort müßte es noch das eine oder andere Kötzsch geben …
Thomas Gerlach