Laudatio zu „GEZEITEN II – Geformt“

zur aktuellen Ausstellung von Anita Voigt in der Stadtgalerie

Foto: M. Piper


Wir leben in einer Gegenwart, in der alles in Frage gestellt zu sein scheint, in der uns auf einmal bewusst wird, dass wir nur ein Teil des Universums sind, dass die Natur allmächtig ist, nicht nur den ewigen Kreislauf von Werden, Wachsen und Vergehen bestimmt, sondern uns Menschen auch in die Schranken weist. […]

Anita Voigt ist eine ernsthafte, lebenszugewandte Künstlerin, die nicht im luftleeren Raum lebt, sich nicht im sogenannten Elfenbein mumifiziert. Sie steckt voller Empathie, lässt sich berühren, von dem, was sie erlebt und manifestiert ihre Gedanken und tiefgründigen Seherlebnisse in Zeichnungen und Bildwerken, die ohne erhobenen Zeigefinger, in formaler Reduktion, auf die archaische Schönheit und gewaltige Kraft von Naturerscheinungen verweist.
Und sie lässt Fragen zu:

„Rutscht man automatisch in die Schublade der Romantiker, wenn die Einsamkeit, das Ausgegliedert-Sein… zum Thema werden?“; Sehen und fühlen wir nicht nur das, wozu wir ohnehin in Resonanz gehen können? Welche Rolle spielt, was mir unerwartet oder sogar unwillkommen widerfährt?“

Panta rhei – alles fließt. Diese philosophische, antike Sentenz von Heraklit beschreibt, dass alles in unaufhörlicher Bewegung ist. Die Welt steht niemals still. Alles ist unablässig ein Werden und Vergehen. […]

Die Augen von Anita Voigt haben Vieles getrunken, mit Begeisterung und Nachdenklichkeit.

Unverhofft und verwandelt brachen sich elementare Formen Bahn.

Denn auf den Papieren kann man frei atmen, kann man durchatmen, befreit von Draußen und doch gefangen im Innen. Eine wunderbare, beflügelnde Erkenntnis. Kennt man das innere Leben der Linien und Farben, dann vermag man, das mit eigener Selbstentdeckung zu feiern. Dann nimmt die Lust an jeder gelungenen Metamorphose des Sichtbaren zu und es entstehen beeindruckende, neue Zusammenhänge.

Anita Voigt ist auch eine spirituelle Künstlerin, die altes Wissen in sich trägt, die erlebte Landschaftsträume in reduzierter bildlicher Umsetzung mit einer visionär-philosophischen Dimension verbindet. So erwächst aus dem Sichtbaren auch Geistiges für den aufmerksamen Betrachter. So verbindet sich auf geheimnisvolle Weise bewusstes mit Unbewusstem. […]

Gezeiten ist der Titel der Ausstellung. Das Wort imaginiert Veränderung, eine Metamorphose in der zyklischen Ausrichtung des Lebens auf der Erde. Und dieses Wissen hilft, […], mit Gelassenheit und Würde anzunehmen und im Rahmen der eigenen Möglichkeiten zu gestalten, um dem Leben einen Sinn zu geben.

Im Juni 2020 begab sich Anita Voigt zusammen mit ihrem Mann in einer ausgebauten Feuerwehr auf eine abenteuerliche Reise nach Frankreich, in die nördliche Bretagne. Sie war mit ihrem Skizzenbuch unterwegs, fasziniert von der rauen, unwirtlichen, wild widerspenstigen Küstenlandschaft und von den Gezeiten. Das Kommen und Gegen von Ebbe und Flut widerspiegelt auf unvergleichliche Weise Lebensrhythmen. Für Anita Voigt war das ein Schlüsselerlebnis! […] Sie äußerte sich folgendermaßen dazu:

„Das Thema der Gezeiten ist ein Lebensthema. Unbeschreiblich intensiv und direkt mit allen Sinnen erlebt am Atlantik. Dann gleicht es einer Welle, deren Ausläufer sich an den Hügeln und Felsen meiner Umgebung bis hin zur Sächsischen Schweiz brechen. Weit über gegenwärtige Zeit hinaus. Die brutale Kraft dieser Naturgewalt bringt Gefahr und Schönheit. Das Wechselspiel gegenseitiger Formung. […] Wenn ich zeichne, sortiere ich und ordne. Was auf dem Blatt geschieht, vollzieht sich entsprechend in meinem Inneren, gewinnt Struktur. Mich interessiert, ob diese Veränderungen, die sich während des Arbeitsprozesses in mir vollziehen, auch umgekehrt auf das Geschehene wirken.“
Man muss Mut haben, Schwarz auch zu behaupten auf dem Weiß von Papieren. Aus der Bewegung heraus hat Anita Voigt mit Pinseln, breiten bürstenartigen und schmalen, mit Tuschen gezeichnet, ganz langsam und mit großer Leichtigkeit. Viele Papiere wurden ausprobiert. Japanpapiere, saugfähig und fein – erfordern ein großes Können. Man muss die Technik beherrschen, muss wissen, wie schnell die Pinselbewegung sein sollte und wie die Konsistenz der Tusche beschaffen sein muss. […]

Anita Voigt hat sich intensiv mit japanischer und chinesischer Tuschemalerei beschäftigt. Es geht dort nicht überall um den Zufall, sondern um die Beherrschung des Mediums, um die Verfolgung eines strengen Formenkanons. […] Sie „lässt den Pinsel machen“, wie sie es mir gegenüber bekannte. Bewusst verzichtet sie auf menschliche Figur, die mit der Abwesenheit aber dennoch präsent bleibt.
[…]

In der Bretagne, in der Sächsischen Schweiz, im Wald und mit der Beschäftigung des pflanzlichen Wachstums hat sie bildnerische Analogien gefunden, die ein Nachdenken über die Zeit möglich machen.

Das Werden und Vergehen, das veränderliche in der Natur beschreibt demzufolge auch immer eine biografische Spur – mit Tusche und Kohle oder Tempera umgesetzt.

Großartig, ja überwältigend sind die Kohlezeichnungen, der felsartigen Klippen, umbrandet vom Meer, dass auf den Zeichnungen nicht sichtbar ist, nur in unseren Gedanken durch das Weiß der Papiere fließt. Dieser halluzinatorische Moment im Kommen und Gehen besitzt etwas archaisch Magisches und macht die Faszination der Arbeiten aus.
Anita Voigt erweist sich auch als eine Tagträumerin mit musikalischen Nachklang. […] Mit Hingabe lässt sie das Schwarz erklingen, ermutigt und freudvoll überrascht von dem, was sich vor ihren Augen ereignet.

Es ist eine Realität im Zustand der Schwerelosigkeit, in der alles möglich zu sein scheint. Anita Voigt hat die Zeit des vermeintlichen Stillstands also genutzt, das Glück zu fangen und hat sich neu gefunden.

Der Umgang mit der Kunst lehrte sie, das Leben zu achten und den Sturmwind der Zeit gelassen zu betrachten, sich auf sich selbst zu konzentrieren und um die innere Mitte zu ringen, sich nicht zu verleugnen, sich ganz einfach zu leben… […]

Sie hat den Bezug zur Außenwelt, zu natürlich-naturhaften Gegebenheiten niemals verloren in der virtuellen Welt ihrer künstlerischen Selbsterkenntnis und schafft neue Zusammenhänge.

Ja, sie legt eine Spur, ihrer eigenen Natur gemäß, der wir folgen sollten, denn sie sieht im Einfachen das Besondere. […]

Im Mikrokosmos ihrer Bildwelt offenbart sich hier ein Makrokosmos, das stille Aufeinanderbezogensein der Elemente, der Pulsschlag des Lebendigen, eingebunden in den Kreislauf von Werden und Vergehen und es offenbart sich auch die Macht des Menschen, zu bewahren oder zu zerstören. […] ihr innerer Reichtum ist immer präsent, ihre Sehnsucht nach Harmonie ebenso wie ihr Wissen um das labile Gleichgewicht der Natur.

Eine innere Bewegung ist mit den Arbeiten verbunden, die alles einzuschließen scheint:

den Wind, den Regen, die Sonne, Himmel und Erde, die Metamorphosen des Geformt-Seins.

Es sind großartige Augenerlebnisse, die uns die Trostlosigkeit, der wir mitunter in letzter Zeit erliegen, zu nehmen vermögen.

Karin Weber
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Dies ist eine gekürzte Fassung der Eröffnungsrede vom 5.11.2021. Der Text in voller Länge liegt in der Stadtgalerie Radebeul aus, die Digitalvariante ist über Radebeul.de/stadtgalerie abrufbar.

Die Ausstellung ist bis zum 19.12.21 zu sehen.

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