Wer war Oskar Ernst Bernhardt alias Abd-ru-shin? (2. Teil)

Repro B. Kazmirowski

Im Dezember-Heft hatte ich auf den Sachverhalt aufmerksam gemacht, dass vor genau 100 Jahren ein gewisser Oskar Ernst Bernhardt nach Kötzschenbroda gezogen war und für etwa drei Jahre, bis 1924, auf der Meißner Straße gewohnt hatte. Auf diesen Beitrag habe ich einige Rückmeldungen erhalten, wofür ich dankbar bin. Beispielsweise erhielt ich durch unsere Leserin Petra Schmalfeld einen Hinweis auf die mögliche Ursache für die mehrjährige Internierung Bernhardts auf der Isle of Man ab 1914. Darüber hinaus meldet sich auch Frank Andert bei mir und korrigierte meine Angaben zu Bernhardts früherem Wohnsitz. Tatsächlich wohnte er nämlich in einem kleinen Landhaus ungefähr dort, wo heute LIDL unter der Adresse Meißner Straße 252 einen Supermarkt betreibt. Insofern ist der Wikipedia-Eintrag mit dem Verweis auf die Meißner Straße 250 richtig. Überdies machte mich Frank Andert darauf aufmerksam, dass er bereits vor 10 Jahren als Teil 62 seiner Reihe „Kötzschenbrodaer Geschichten“ (digital abrufbar auf der Seite der Stadtapotheke Radebeul) über O.E. Bernhardt geschrieben hatte. Ihm gebührt also Anerkennung dafür, dass er sich lange vor mir aus heimatkundlichem Interesse heraus mit dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit befasst und dazu veröffentlicht hat.
O.E. Bernhardt hatte sich ab etwa 1925 „Abd-ru-shin“ genannt und in einer Publikation mit dem Titel „Gralsblätter“ seine Lehre verkündet, die seither als „Gralsbotschaft“ firmiert. Genau um diese soll es im vorliegenden Beitrag gehen, wobei ich nur einen sehr kleinen Teil vorstellen möchte und stellvertretend zwei Aspekte vertiefe, die im Hinblick auf die biblische Weihnachtsgeschichte von Belang sind. Abschließend sei noch gesagt, dass ich kein Theologe bin, weshalb ich mich Bewertungen jedweder Art enthalte. Sofern angebracht zitiere ich aus zwei fachwissenschaftlichen Publikationen i), die helfen können, die „Gralsbotschaft“ einzuordnen. Ansonsten beziehe ich mich vor allem auf Abd-ru-shins dreibändige Offenbarung „Im Lichte der Wahrheit .i i) Die Leserschaft möge sich also selbst ein Bild davon machen und Rückschlüsse ziehen.
Literarisch-kulturgeschichtlich bewanderte Leser kennen den Begriff des „Grals“. Schon im Mittelalter beschworen Dichter wie Wolfram von Eschenbach und Chrétien de Troyes in ihren Legenden die Existenz eines wundersamen Gefäßes, welches Jesus Christus nach neutestamentlicher Lesart beim letzten Abendmahl im Kreis seiner Jünger geleert hatte. Dieses Gefäß würde an einem geheimen Ort verwahrt und Fixpunkt einer Erlösungsvision sein, in deren Zentrum eine Gralsburg mit der Gralsritterschaft stünde (man denke hier vor allem an die Figur des Parzival). Insofern ist es wichtig zu betonen, dass die von Abd-ru-shin so benannte „Gralsbotschaft“ sich davon absetzt. Diese behauptet, dass jener Kelch, so es ihn gäbe, nicht der Heilige Gral sei, sondern der Gral ein ewiges Mysterium, etwas Nicht-Stoffliches sei und die Menschen keinen Zugang dazu hätten – es sei denn durch einen Boten, der, mit einer göttlichen Vollmacht ausgestattet, Zeugnis davon ablegen und die „Wahrheit“ verkünden könne. „Im Jahr 1929, offensichtlich am 29. Dezember, erlebte Bernhardt die Offenbarung seiner göttlichen Sendung.“ (Verscht-Biener/Reimer, S. 3). Fortan sah er sich als der „Menschensohn“, der in der Nachfolge des „Gottessohnes“ (also Jesus Christus) stünde. „Und da der gesandte Gottessohn und der nun kommende Menschensohn die alleinigen Bringer der ungetrübten Wahrheit sind, müssen beide naturgemäß auch untrennbar das Kreuz in sich tragen […] Träger der Wahrheit sein, Träger der Erlösung, die in der Wahrheit für die Menschen ruht“ (Abd-ru-shin, S. 150). Aus dieser Logik heraus ergibt sich auch die Tatsache, dass für seine Anhänger Abd-ru-shin der HERR ist und gottgleich verehrt wird: „Wer das Wort Gottes, so wie es in der Gralsbotschaft Im Lichte der Wahrheit geschrieben steht, in sich aufnimmt, wird Stufe um Stufe nach oben aufsteigen.“ ¹) Dieser Verehrung ist geschuldet, dass Abd-ru-shins/Oskar Ernst Bernhardts Todestag 6. Dezember ein besonderer Gedenktag für die Gralsanhänger ist. Vor allem aber wird der 29. Dezember als einer von drei großen Festtagen begangen, an dem Abd-ru-shin quasi aufhörte Oskar Ernst Bernhardt zu sein und seine Berufung als gottbegnadeter Künder der Gralsbotschaft empfangen haben soll: „Am 29. Dezember begehen wir das Fest des Strahlenden Sternes. Es steht in engem Zusammenhang mit der Geburt Jesu‘, die einst vom Erstrahlen des Bethlehemsternes begleitet war, und dessen Mission, die darin lag, der Menschheit in seiner Botschaft der Liebe die Wahrheit zu bringen. Wie einst durch die Geburt des Gottessohnes Jesus auf die Erde, so wird auch an diesem Tag ein Strahl der Gottesliebe gesendet, zur Hilfe für uns Menschen. Das Fest des Strahlenden Sternes wird daher auch das Fest der Rose genannt, weil diese das Symbol der Liebe ist.“²) Interessant ist auch die Tatsache, dass Bernhardts zweite Frau Maria, die ab 1921 für ca. drei Jahre seine Vermieterin in Kötzschenbroda gewesen war, zu einer wichtigen Figur des Kultes stilisiert wurde. Gemeinsam mit ihr und deren ältester Tochter Irmingard bildete Abd-ru-shin ein „göttliches Trigon“, weshalb auch Maria Bernhardts Geburtstag, der 19. Dezember, als ein Gedenktag begangen wird.
Nun befinden wir uns in diesen Tagen unmittelbar vor und nach Weihnachten in einer theologisch aufgeladenen Zeit, die unsere säkulare Gesellschaft beeinflusst wie keine andere im Kirchenjahr. Denn auch viele Nichtchristen kennen die Geschichte von der Geburt Jesu, wie sie im Lukasevangelium erzählt wird. Aber die Interpretation dieser Botschaft, wie wir uns also Zeugung, Menschwerdung und Geburt vorstellen, hängt zum einen stark davon ab, ob man bspw. Katholik, Protestant, Religionswissenschaftler oder gar Biologe ist, zum anderen, welche Haltung man ganz persönlich als Christ oder auch Atheist zu dieser Überlieferung einnimmt, denn sie berührt eine der umstrittensten Glaubensfragen. Bei vielen Christen besteht die tradierte Vorstellung von Jesus als Gottes Sohn, der ohne leibliche Zeugung entstanden ist („Jungfrauengeburt“). Abd-ru-shin wendet sich dagegen und schreibt: „Es sei Euch noch einmal gesagt, daß es unmöglich ist nach den Gesetzen in der Schöpfung, daß Erdenmenschenkörper je geboren werden können ohne vorherige grobstoffliche Zeugung […]“ (Abd-ru-shin, S. 66). Er begründet dies mit der Vollkommenheit der göttlichen Schöpfung, die notwendigerweise eine Zeugung vor einer Geburt bedingt. Er fragt sich, warum Gott ausgerechnet bei der Sendung seines Sohnes gegen seine eigenen Schöpfungsgesetze hätte verstoßen sollen: „Denn Gott ohne Vollkommenheit wäre nicht Gott.“ (ebd.) Dennoch führt er aus, dass es „vollkommen richtig“ sei, von einer unbefleckten Empfängnis zu sprechen, denn man müsse sich den Vorgang vor allem als eine „geistige Empfängnis“ in einem Akt göttlicher Auserwählung „in der Mitte der Schwangerschaft“ denken (Abd-ru-shin, 351). Und weiter: „Daß Maria schon alle Gaben für ihre Mission mitbrachte, also vorgeburtlich dazu ausersehen war, die irdische Mutter des kommenden Wahrheitsbringers Jesus zu werden, ist bei einiger Kenntnis der geistigen Welt […] nicht schwer zu verstehen.“ (ebd.). Sehr interessant finde ich im weihnachtlichen Zusammenhang auch, dass Abd-ru-shin in einem seiner Vorträge („Weihnachten“) grundsätzlich darüber nachdenkt, welche Rolle den Hirten zukommt, denen der Überlieferung nach auf den Feldern der Engel erschienen war und die Frohbotschaft von der Geburt des Heilands verkündete hatte. Abd-ru-shin betont, dass nur wenige Auserwählte Zeugen der Geburt waren und schreibt: „Niemand sah und hörte als die wenigen der dazu auserwählten Hirten, die in ihrer Einfachheit und Naturverbundenheit am leichtesten dafür geöffnet werden konnten.“ (Abd-ru-shin, S. 715) Wie es im Neuen Testament heißt, machten sich die Hirten dann vom Stall in Bethlehem auf, um aller Welt von der Geburt des Kindes zu erzählen. Diesen Gedanken nimmt Abd-ru-shin auf und fragt sich, wie man in der Moderne mit Menschen umgeht, die schier Unglaubliches zu verkünden haben: „Damals glaubte man den Hirten, wenigstens für kurze Zeit. Heute werden derartige Menschen nur verlacht, für unbequem gehalten oder gar noch für Betrüger, welche irdisch Vorteile dadurch erreichen wollen, weil die Menschheit viel zu tief gesunken ist, um Rufe aus den lichten Höhen noch für echt nehmen zu können, namentlich, wenn sie sie selbst nicht hören und auch selbst nichts schauen können.“ (ebd.). Es liegt nahe, dass Abd-ru-shin damit indirekt auch sich und seine Wirkung auf die Menschen seiner Zeit meint. Denn bei allem Zulauf, den seine Bewegung ab den späten 1920ern aufgrund auch äußerer Umstände erfuhr – in einer Zeit der Wirtschaftskrise, der sozialen Instabilität, der zunehmenden politischen R9adikalisierung – so blieb seine Gralsbewegung dennoch auch auf lange Sicht eine Randerscheinung, was sicherlich daran lag, dass zentrale Aussagen quer zur katholischen und auch zur evangelischen Lehre stehen. Zusammenfassend zitiere ich wie folgt: „Sein Anspruch, der ‚Menschensohn‘ zu sein, fordert vornehmlich Christen heraus, für die dieser Hoheitstitel unlösbar mit Jesus Christus verknüpft ist. Ob Bernhardt als Gründer einer christlichen Religionsgemeinschaft oder Bewegung zu bezeichnen ist, wird umstritten bleiben. Elemente christlicher Tradition und christlichen Denkens sind in seiner Lehre zweifellos vorhanden. In ihren Grundaussagen ist sie jedoch […] nicht christlich.“ (Obst, 571).
Damit schließe ich meine Ausführungen ab. Eine Frage aber habe ich noch nicht beantwortet, ich hatte sie eingangs des Beitrages im letzten Heft gestellt: Wieso bin ich auf Oskar Ernst Bernhardt alias Abd-ru-shin ausgerechnet bei einer Radtour durch kleine Örtchen bei Salzburg gestoßen? Die Antwort: Mir fiel in Sighartstein, ein nur wenige Dutzend Häuser umfassender Ortsteil von Neumarkt/Wallersee, ein neugebautes Haus ins Auge, das ich bei früheren Aufenthalten in der Region noch nicht gesehen hatte, es schien mir eine Art Tempel zu sein. Am Grundstückseingang konnte man sich aus einem Kästchen ein Faltblatt entnehmen, das auf die Gralsbotschaft eines gewissen Abd-ru-shin hinwies. Und also nahm ich mir eines davon mit… und begann zu recherchieren.
Bertram Kazmirowski


¹) Paul Otte: Der Sinn des Lebens. S. 95. 2020
² https://gralsbewegung.net/andachten-und-gralsfeiern/

i) Helmut Obst: Apostel und Propheten der Neuzeit. S. 546-574. Halle/Saale 2000; Karin Verscht-Biener/Hans-Diether Reimer: „Die Gralsbewegung“. Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. Stuttgart 1991.
ii) Abd-ru-shin: Im Lichte der Wahrheit. Gralsbotschaft. Vomperberg. 2. Auflage 1960.

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Ein Kommentar

  1. Veröffentlicht am Fr, 16. Jun. 2023 um 18:13 | Permanenter Link

    Sehr geehrter Herr Kazmirowski,
    Schön dass Sie in Sighartstein Abd-ru-hin entdeckt haben.
    Leider haben Sie nicht die Gralsbotschaft gelesen, sondern voreingenommene Kritiker, die darin natürlich nichts finden konnten oder wollten. So kam eine fehlerhafte Arbeit zustande.
    Es gibt etliche Biographien, auch im Internet und in meiner Homepage (s.o.) finden Sie eine Buchbesprechung und in „König Artus und die Suche nach dem Gral“ den neueren Forschungsstand zur irdischen Gralsschale.
    Mit besten Grüßen,
    Dipl. Ing. S. Hagl

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