Fortschritt
Die Biergartensaison ist nicht nur eine Zeit des Durstes, wenn die Eisheiligen mal wieder was falsch verstanden haben, es ist auch eine Zeit der Begegnung. Im Leben treffe ich Wolf eher selten. Nun aber, wie ich auf meinem Stammhocker am Stamm hocke, seh ich ihn angeschlurft kommen. Grad fröhlich sieht er nicht aus. Nach dem üblichen, nicht sonderlich ernst gemeinten „darf ich“ zieht er sich seinerseits einen Hocker heran.
Schön, sagt er, mal wieder draußen sitzen.
Ja, bestätige ich, der erste Fortschritt im Jahr.
Das unterstellt, sagt Wolf ernst, daß Fortschritt was Gutes ist, ist aber bestenfalls neutral. Jedenfalls brauch ich erstmal ein Bier.
Das kenn ich, sage ich, was meinst du, warum ich hier sitze?
Du sitzt hier, weil du hier sitzt, ich aber habe einen Grund, sagt er wichtig. Er bedankt sich für das ihm gereichte Bier, wartet geduldig, bis die Revierwespe ihre Visite mit offenbarer Zufriedenheit beendet hat und abschwirrt, trinkt und schweigt. Ich begreife, daß ich ihn fragen soll, also frage ich: Warum hast du denn am Tag der kalten Sophie son Durst?
Kalte Sophie, Wolf lacht bitter, da hast du blind ins Schwarze getroffen: die kalte Sophie ist fort geschritten.
Aha, sag ich, Sophie – Was ist mit ihr? Sprich …
Fort geschritten ist sie, wiederholt Wolf, weggelaufen, also – nicht mehr da …
Ja, sag ich, hab längst geahnt, daß Fortschritt nicht jedem gut tut. In der Schule – du erinnerst dich vielleicht – haben sie uns erzählt, Fortschritt wäre unwidersprochen immer nur gut. Und das kleine Land im Herzen Europas meinte sogar, den Fortschritt allein zu besitzen. Und jeder, der gegen den Fortschritt war, war gegen den Staat und wer gegen den Staat war, war ein Reaktionär. Dabei heißt Fortschritt nur, wie du ja schon angedeutet hast, daß es anders ist – obs besser wird, steht auf einem anderen Blatt …
Im konkreten Fall, bringt sich Wolf in Erinnerung, ist jetzt erst mal eine große Leere entstanden in diesem Leben. aber das wird mir eine Lehre sein, eine leere Lehre vom Fortschreiten oder weglaufen, nenn es wie du willst.
Die aufmerksam mitfühlenden Kellnerinnen bedenken uns mit ausreichend Flüssigkeit. Wir bedanken uns artig.
Solche fröhlichen Gesichter sind auch mal was Schönes, seufzt Wolf.
Die haben den Vorteil, sag ich, daß sie nicht nur fortschreiten, sondern auch wiederkommen – und wie zufällig immer etwas frisch Gezapftes dabei haben. Meinst du, daß ihr Wiederkommen Rückschritt bedeutet, wenn sie einmal weggegangen sind?
Was die Kellnerinnen angeht, würde ich nicht von Rückschritt sprechen, sondern von positiver Reaktion.
Reaktion – erinnere dich an den Staatsbürgerkundeunterricht – ist immer negativ, und zwar durch und durch. Apropos: Wie reagierst denn du jetzt? Hast du Aussicht, daß Sophie vom Fortschritt zurücktritt und dir wieder dein Heim kehrt? Wenn ja, wäre das Rückschritt?
Noch ein allgegenwärtiger Irrtum, sagt er rasch: Rückschritt führt nie wieder dort hin, von wo der Fortschritt ausgegangen ist. Was solls, ich muß so oder so neu anfangen …
Stell dir vor, sag ich später zu Ulrike, dem Wolf ist die Sophie weggelaufen …
Nu gucke, lacht sie, für so fortschrittlich hätt ich sie gar nicht gehalten…
Thomas Gerlach