Vorspiel
Viel Wasser ist inzwischen die Elbe hinab geflossen, dass ich es erleben durfte! Es sind siebzig Jahre seitdem vergangen. Aber jetzt endlich muss ich es aufleben lassen…
Eigentlich hatten wir beschlossen zu heiraten. Doris, die Radebeulerin und ich, der Harald aus Meißen.
Wir wollten eine Mischehe führen. Unsere Söhne sollten katholisch, die Mädchen jedoch im Sinne von Moshe Rabenu erzogen werden, Moses unserem Vater, wie wir den Begründer unserer Religion nennen.
Sie war das schönste und liebenswerteste Mädchen meines bisherigen Knabendaseins. Alles war fein an ihr, voller Liebreiz, nichts Grobes. Ihre Frisur bestand aus kunstvollen, hochgesteckten Zöpfchen. Das Gesicht zart wie ein Meisterpastell. Ihre Haut ein Farbspiel aus Olivgrün und Haselnussbraun. Die Gestalt anmutig, ihre Bewegungen graziös.
Und! Sie mochte mich auch. Das war für mich ein ganz besonderes Geschenk.
Denn in meiner Schule war ich doch mehr geduldet als gelitten; ein echtes ADHS-Kind. Bin ich ja heute immer noch. Bei den Lehrern war mit mir „kein Blumentopp zu gewinnen“.
Manche Klassenkameraden mochten mich meiner hohen Singstimme wegen, weil ich gern mit ihnen kleine Theaterstücke einübte und unentwegt mir Geschichten ausdachte…
Unser Überleben im Versteck, das meiner Mutter und meines, musste auch nach dem Krieg verschwiegen und wenn möglich verdrängt werden. Kein Mensch wollte davon hören.
Überstandene Pein war kein Thema öffentlichen Interesses.
Für die Auswirkungen, sprich seelischen Schäden, gab es kein Verständnis. Der allgemeine Tenor: Wir haben alle gelitten…
Ja, was macht denn dann so ein halbwüchsiger Judenbengel, wie ich? Der ist immer auf dem Sprung. In allem fühlt er sich verletzt, bedroht immer verfolgt.
Da hilft ihm auch alles Zureden nichts ,keine liebevoll gemeinte Ermahnung…
Und dann dieses wunderbare, kluge, weibliche Geschöpf, das mich so bereitwillig annahm. Das so bereitwillig unseren kleinen Ausflügen in die nahen Weinberge zustimmte.
Da hockten wir uns nieder und tauschten ohne Scham und endlos die liebsten, kindlichen Zärtlichkeiten. Ich denke heute, dass dies die ersten zaghaften und unendlich beglückenden Schritte ins „Frau und Mann werden“ waren…
Im folgenden Sommer, 1954, lag ich mit einer schweren, damals sagte man Volkskrankheit, ein halbes Jahr im Meißner Kinderkrankenhaus. Wir hatten keine Gelegenheit voneinander Abschied zu nehmen. Der Vater von Doris, ein promovierter Chemiker bei „Matthaus“ fand im „Westen“ offensichtlich bessere Arbeitsbedingungen. Es wurde unsere lebenslange Trennung. Die unvergessene Liebste hatte mir ihre Rollschuhe hinterlassen und das Fahrrad ihres Vaters, das ich bis ins fünfzigste Lebensjahr auch benutzte, dann wurde es mir entwendet.
Ihr noch einmal im Leben zu begegnen, war wohl mein Wunsch wenn ich in sehr großen Abständen im Turmhaus an der Weinbergstraße immer wieder nach ihr fragte. Einmal wären wir uns fast begegnet. Wenige Wochen vor meiner Nachfrage erfuhr ich von ihrem Besuch in der Weinbergstraße und dass sie jetzt in Heidelberg lebe. Ich fand Ihre Telefonnummer, rief sie an; ein unverhofft liebes, kurzes Gespräch, das aber keine Wiederholung fand: Hatten doch ereignisreiche Zeiten mildtätig die Patina romantischer Verklärung über unsere Erinnerungen gegossen und gar keinen Neuaufguss, von was eigentlich, zugelassen.
Das feine Sommerkind von damals, Doris, blieb mir im Sinn und die Weinberge von Radebeul: das Spitzhaus, das „Weiße Ross“, Schmalspurbahn und Lößnitzgrund, und eben das Turmhaus in der Weinbergstraße, dem gegenüber das dunkel wettergebräunte Holzhaus noch immer steht, mit seinem Garten, unserem, in der Zeit versunkenem Paradies.
Heute gedenke ich dankbar meinem Leben gegenüber, dass nach einem mehr als holprigen Start, durch die glückreiche Begegnung mit einem ganz besonderen Menschen, einem, der für mich gemacht schien, ein sonniger Zeitraum genügte, an das Leben zu glauben, ihm zu vertrauen um immer genügend Optimismus aufzubringen, die Frage zu stellen und auch zu beantworten: „Was kann ich dem Leben geben?“ Manchmal hieß das nur, meine eigene Würde mir nicht nehmen zu lassen.
Viel Wasser war die Elbe hinabgegangen, als mir dann endlich in einer Frau, meiner Frau, die mich auch heiratete, dann endlich der Mensch begegnete, den ich anhaltend lieben konnte und für den ich auch leben wollte, noch immer leben will.
Zusammen haben wir unseren sechs Kindern in die Welt hineingeholfen. Die beschenkten uns bisher mit sieben Enkeln.
Aus diesem Lebensglück speist sich nun der Wunsch, ein bisschen von allem Lebensgewinn dahin abzugeben, wo mein erfülltes Leben begann – nach Radebeul…
Da haben sich nun ein paar Leute, „mit bunter Knete im Kopf“ ein Projekt ausgedacht zur Ermunterung von Leuten, die das Leben nicht besonders verwöhnt hat.
Und wo soll das realisiert werden?
Unter dem Motto : „Lößi lebt!“ an einem besonders sonnigen Ort Deutschlands, in R A D E B E U L.
Chajim Grosser
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…mehr darüber in der nächsten V&R Ausgabe im April