Aus der jüngeren Vergangenheit ist den Älteren unter uns vielleicht noch das Kürzel EW 65 bekannt, das stand für ein 1965 projektiertes und früher oft gebautes Einfamilienhaus. Das nannte man im DDR-Sprachgebrauch Typenprojekt. Die Baumeister Gebr. Ziller verfuhren seinerzeit ähnlich, sie bauten schon mal ein Haus mit bewährtem Grund- und Aufriss mehrmals. So sparte man Projektierungskosten und steigerte den Gewinn. Betrachten kann man so ein Zillersches Typenprojekt z.B. bei den zwischen 1878-80 erbauten Häusern Eduard-Bilz-Straße 31, 33 und 35.
Jetzt will ich aber zu dem Moritzburger Beispiel überleiten. Es ist in der Schlossallee genannten Straße zu finden und geht ins 18. Jahrhundert zurück. Im Zusammenhang mit dem Umbau des Jagdschlosses von 1723/ 24 regte König Friedrich August II (bekannter als August der Starke 1670-1733) ab 1725 an, nun auch eine neue, auf das Schloss zuführende Straße zu errichten. Die alte Straße wand sich durch das Dorf Eisenberg, eine unbefestigte Dorfstraße eben, und war für August den Starken wenig attraktiv. Es dauerte noch eine Zeit bis 1732 die Idee einer Allee ganz umgesetzt war. Seine Gäste, manchmal auch Staatsbesuche, sollten auf einer schnurgeraden (etwa ab Sonnenland), zweieinhalb Kilometer langen Straße heranrollen, das Schloss sollte schon auf Entfernung zu erkennen sein und größer werden, je näher man kam. So wurden die Gäste auf das Schloss eingestimmt und konnten diese Pracht erleben. An der neuen Straße entstanden Häuser für Beamte und Handwerker, die aber nicht vom Blick auf das Schloss ablenken durften. Um den Effekt zu erreichen, glaubte man mit einheitlichen barocken Häusern den Blick auf das königliche Jagdschloss stärker konzentrieren zu können als mit verschiedenartigen Haustypen; so war hier das vielleicht erste Typenprojekt geboren! Die Allee querte Felder und Wiesen und hatte vor 1725 nahezu keine Bebauung. Ziel war ein barockes Ensemble mit dem Schloss im Mittelpunkt – entsprechend dem Herrscherausspruch „der Staat bin ich“ aus Frankreich – und flankierenden barocken Häusern an der neuen Straße. Die auf königliches Geheiß begonnene Straßenbebauung war eine städteplanerische Aufgabe und muss ab 1725 nach der Schlosserweiterung erfolgt sein und da der Hofarchitekt Matthäus Daniel Pöppelmann wesentlich am Schloss gewirkt hatte, dürfte auch der Entwurf der Alleehäuser ihm zuzuschreiben sein. Auf einer historischen Landkarte, die eine Aussage zur älteren Form und Größe der Teiche ums Schloss zum Hauptthema hatte, erkannte ich fünf gleich große, quadratische Häuser, die erste Gruppe der Typenprojekte.
Die fünf Häuser der ersten Baustufe können den heutigen Adressen Schlossallee 4, 5, 11, 17 und 24 zugeordnet werden. Schlossallee 20, die Apotheke, kann ich, anders als Dr. Andreas Timmler und die Gruppe Ortschronik Moritzburg,
den Typenhäusern nicht zuordnen. Es handelt sich zwar auch um ein Haus aus dem 18. Jh., jedoch mit anderem Grundriss, keinem Zeltdach und taucht nicht auf dem o.g. Lageplan auf. Offenbar plante man die neue Bebauung nur in dem Abschnitt vom Schlossteich bis zur Kreuzung der Schlossallee mit dem Roßmarkt. Sicherlich hätte August II vorgehabt, diese Bebauung der Allee mit weiteren barocken Typenhäusern noch zu verdichten. Baulücken dafür hätte es ja gegeben. Aber eine 2. Baustufe kam zu Lebzeiten des Königs, er starb 1733, nicht zustande. Warum sein Sohn Friedrich August III, ebenfalls König von Polen und Kurfürst von Sachsen, das Projekt der begonnenen Straßenbebauung mit einheitlichen barocken Häusern nicht fortsetzte, ist mir im Einzelnen nicht bekannt. Man wird wohl nicht fehl gehen, wenn man da zuerst ans fehlende Geld als Grund denkt. Die barocke städtebauliche Idee wurde also nie vollendet, der angedachte Effekt kam hier nicht zum Tragen und ist heute mit den drei original erhalten gebliebenen Typenhäusern und demgegenüber vielen anderen, in drei Jahrhunderten gebauten Häusern kaum noch zu erahnen.
Da der erste Eindruck der entstandenen fünf Typenprojekthäuser – am besten am Haus Schlossallee 5 abzulesen – mit Länge, Breite (ca. 10 x 11m) und Höhe fast gleich waren, könnte man an einen Würfel denken. Insofern möchte ich sie fortan als Würfelhäuser bezeichnen. Was fällt uns an den Würfelhäusern an wiederkehrenden Merkmalen auf? Das zu erkennen ist nicht so leicht, weil die noch verbliebenen Häuser sich über eine Standzeit von fast 300 Jahren natürlich jedes Einzelne anders entwickelt hat. Denkmalschutz für die barocken Würfelhäuser bestand wohl erst seit Mitte des 20. Jh.! Die Hauptmaße Länge, Breite und Höhe sind fast übereinstimmend, sie sind zweigeschossig mit 5 Achsen nach der Straße zu, die mittlere Achse als Eingang, 3 bzw. 2 Achsen nach den Seiten, massive Bauweise (Naturstein / Ziegel, verputzt) kann erkannt werden mit Ausnahme der Schlossallee 24, wo beim Abbruch überraschend Fachwerk im OG zutage trat, darauf ein hohes Zeltdach (Sonderform eines Walmdachs) mit roten Biberschwanzziegeln gedeckt, ob auf allen Dächern Gaupen vorgesehen, bzw. realisiert wurden, muss offen bleiben, im Einzelfall erkennen wir Satteldach- oder Fledermausgaupen, original mittiger Schornstein im Zeltdach, wo der inzwischen fehlt, Abplattung der Spitze, bzw. Verblechung, zur Farbigkeit der Fassaden ist zu sagen, dass ursprünglich im Barock übliche Farben anzunehmen sind, ocker, hellgrau weiß, wie in der Schlossallee 5 wieder zu sehen. Fassaden der Würfelhäuser in grün, rosa oder grau dürften eher Sanierungsmaßnahmen der Neuzeit geschuldet sein. Die Grundrisse und die Raumaufteilung müssen trotz Typenprojekt nicht unbedingt identisch gewesen sein, unterschiedliche Erstbewohner könnten da durchaus individuelle Wünsche eingebracht haben. Ob es von Anfang an schon Anbauten gab – z.B. einen eingeschossigen Wirtschaftsanbau auf der straßenabgewandten Seite mit Satteldach – kann ich nur vermuten. Inzwischen kamen aber z.T. weitere Anbauten dazu wie bei Schlossallee 11 und 24.
Für die Zukunft der drei original erhaltenen Würfelhäuser wäre zu wünschen, dass bei Reparaturen und Werterhaltungsmaßnahmen schrittweise der barocke Charakter (Vorbild Schlossallee 5) wieder erreicht würde.
Übersicht zu den ursprünglich fünf barocken Würfelhäusern:
Schlossstraße 4, heute die Stephanus-Buchhandlung, nach dem älterem Lageplan müsste hier, gegenüber dem „Dreispitz“ eines der Würfelhäuser gestanden haben, ob dieses in das jetzige Haus integriert oder im 19. Jh. abgerissen wurde, wäre nur durch eine innere Untersuchung des Gebäudes zu klären, äußerlich gibt es keinerlei Anzeichen.
Schlosssraße 5, aktuell Gaststätte „Zum Dreispitz“, es ist das am besten erhaltene, bzw. am besten sanierte Würfelhaus, rote Biberschwanzziegel, Putzfarbe hellgelb.
Schlossstraße 11, hier ist seit Jahrzehnten die Gaststätte „Zum Forsthaus“, Fassadengestaltung historisierend, aber kaum barock, dazu Anbauten und Hofbebauung, rote Biberschwanzziegel, grünliche Fassade.
Schlossstraße 17, Wohnhaus mit Optikerladen, Sanierung wohl noch vor 1990 erfolgt, Pappschindeldach, rötliche Fassaden, denkmalpflegerische Überarbeitung wünschenswert.
Schlossstraße 24, heute Gaststätte „Goldene Brezel“, 1995 Abriss trotz Denkmalschutz der alten
Brezel (ein Foto während des Abrisses zeigt Fachwerk im OG), jetzt keine originale Substanz des Würfelhauses mehr da, der Neubau ist eine schlechte Kopie, diverse neue Anbauten, rote Biberschwanzziegel, gelbe Fassaden.
An diese barocken Würfelhäuser hat sich der bekannte Dresdner Architekt Peter Kulka erinnert, als er in den neunziger Jahren den Auftrag erhielt, für das „Haus des Gastes“ in Moritzburg einen Entwurf zu erarbeiten. Das Haus Schlossallee 3b wurde, wie nicht anders zu erwarten, modern entwickelt aber es zeigt doch in Ansätzen die Kubatur der alten Würfelhäuser. Das „Haus des Gastes“ ist aber eine viel bessere, eigenständige architektonische Qualität als der krampfhaft nachgeahmte Neubau der „Brezel“, der jenseits von Denkmalpflege und auch neuer Architektur ist.
Ich grüße die Freunde der Gruppe Ortschronik Moritzburg, die mir mit ihrem Artikel „Zeugnisse namhafter Architekten in Moritzburg“ und Erwähnung der Würfelhäuser, eine Steilvorlage gegeben hatten. Aber abgeschrieben habe ich nicht.
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Dietrich Lohse
Literatur: 1. „Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen“,
Cornelius Gurlitt, Verlag C.C. Meinhold u. Söhne, 1904
2. „Ortschronik Eisenberg-Moritzburg“, H. Neumeister / Dr. A. Timmler, Moritzburg-Information u.
Kulturbund, 1986/88
3. „Moritzburg, Schloß und Umgebung in Geschichte und Gegenwart“, Hans-Günther Hartmann,
Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar, 1989
4. „Kulturlandschaft Moritzburg“, Prof. Gerhard Glaser, Sandsteinverl. Dresden, 2010
5. Vorschau & Rückblick Radebeul, Heft 12. 2022, S. 10-13, Gruppe Ortschronik Moritzburg