Ich male, also bin ich.
Renatus Cartesius oder René Descartes, ein in Frankreich geborener europäischer Denker der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, hatte mit vergleichbaren Worten seinen Weg zu sich selbst gefunden. Mit seinem kartesischen Koordinatensystem gab er auch uns Nachgeborenen einen sicheren Kompass an die Hand, uns in der Welt zurechtfinden zu können. Sie wurde ein Stück durchschaubarer, diese Welt, was umso wichtiger scheint, als das meiste, das heute geschieht auf Erden, einfach unbegreiflich ist.
Der Maler Max Manfred Queißer fand, als er schließlich so weit war, in diesem Satz einen sicheren Halt:
Ich male, also bin ich.
Es war ein schmerzlich weiter Weg bis dahin.
Bevor er noch hatte Gelegenheit finden können, sich über seine eigenen Ziele klarzuwerden, wurde dem Siebzehnjährigen 1944 ein fremdes Ziel diktiert: Heldentod.
Süß ist es und ehrenvoll, fürs Vaterland zu sterben.
Der römische Dichter Horaz war es, der diesen Schwachsinn in seinem dritten Odenbuch unter der Überschrift Mannestugend abgesondert hatte. Dem Dichter, der sonst durchaus auch kluge Sachen niederschrieb, kann möglicherweise sogar verziehen werden: Er war ein Kind seiner Zeit, groß geworden in den Wirren der römischen Bürgerkriege. Unverzeihlich und in hohem Maße peinlich ist, dass wir als Menschheit nach ziemlich genau zweitausendundfünfzig Jahren immer noch darauf hereinfallen und mit dem gleichen Lied auf den Lippen in jeden noch so blödsinnigen Krieg ziehen.
Ich bin – um das Ende vorwegzunehmen – dankbar, dass es Manfred vergönnt war, noch in dem Glauben sterben zu können, eine wirkliche Zeitenwende könnte zu einem wahren Frieden führen. Das Erlebnis des Rückfalls in eine Barbarei, die schlimmer ist, als die der römischen Bürgerkriege, blieb ihm zum Glück erspart.
Für ihn selbst war das Abenteuer Krieg glimpflich ausgegangen. Statt Heldentod erwarteten ihn drei Jahre sowjetische Kriegsgefangenschaft. Manfred sprach wiederholt von gestohlenen Jahren. Es waren die Lebensjahre achtzehn bis einundzwanzig. Besonders schwer dürfte auch ihn die Erkenntnis getroffen haben, daß das Vaterland, für das er den Kopf hatte hinhalten müssen, nichts als ein schlimmer Betrug gewesen ist der das Wort zur doppelten Lüge machte und die Opfer dreifach sinnlos.
Ich male, also bin ich.
Ein Satz wie dieser hat ihn ins Leben zurück gebracht. Das war nicht selbstverständlich. Den damaligen Heimkehrern standen weder Psychologen noch Therapeuten zur Seite, sie mussten allein klarkommen mit sich und ihren Erlebnissen.
Nach all den dunklen Jahren waren es zuerst die farbenfrohen Bilder der französischen Impressionisten, die Manfred anregten und ihn schließlich bewegten, selbst zum Pinsel zu greifen.
Dank zahlreicher fruchtbarer Freundschaften zu Künstlerinnen und Künstlern und in ihren Ateliers – er bezeichnete sie später oft als seine Akademien – erwarb er die nötigen Fähigkeiten. Auch die Teilnahme am Abendakt in der Hochschule diente der Lehre und keinesfalls der Schaulust, auch wenn die einem jungen Mann nach Krieg und Gefangenschaft durchaus zu verzeihen gewesen wäre.
Seine berufliche Laufbahn begann er mit dem Studium in Leipzig. Dem Diplom in Soziologie folgten in Dresden Promotion und Habilitation mit philosophischen Themen. Während der damit verbundenen wie daran anschließenden wissenschaftlichen Tätigkeit lag der Pinsel stets in ständiger Reichweite. Ebenso ging es der Geige, die zu seiner besten Freundin geworden war. Sie blieb das auch dann noch, als Gerlinde, die große Liebe seines Lebens begann, seine Tage zu bereichern.
Der Freundeskreis wuchs mit dem Aufgabenspektrum. Stellvertretend will ich hier Karl-Heinz Adler und Friedrich Kracht nennen, mit denen er u. a. den Bauhaus-Gedanken am Leben zu halten suchte.
Als schließlich ein weiteres selbsternanntes Vaterland sich sang und klanglos in Wohlgefallen auflöste, waren es neben Gerlinde wiederum die Farben und die Musik, die ihn auffingen. Glücklich konnte er wiederholen:
Ich male, also bin ich.
So tauchte er ein in die Tiefen der Musik, deren Klänge in ihm zu Farben wurden. Bach, Hindemith, Schönberg, Strawinsky und immer wieder Holst – der von Gerlinde sorgsam edierte Katalog liest sich wie ein Gang durch die Musikgeschichte. Dank der nunmehr offenen Grenzen konnte Manfred die Bilder der Impressionisten im Original erleben, konnte er dorthin reisen, wo die von ihm verehrten Maler gearbeitet hatten. Von überall her brachte er mehr Eindrücke mit unters heimische Dach, als in einem Leben zu bewältigen sind. Und sie alle flossen ein in den Bilderreichtum dieser Jahre: Karneval in Venedig, Musette und Jazz in Paris, Adria, Dubrovnik, Venetien – zufällige Stichworte für ein überreiches Leben:
Ich male, also bin ich.
Die äußeren Gegebenheiten eines Lebens, die Stationen zwischen Geburt, erster Liebe, Heirat und Tod lassen sich in einem Koordinatensystem kartieren. Für Erlebnisse gibt es keine Maßstäbe.
In Manfreds Bildern gibt es keine Winkel, schon gar keine rechten. Seine innere Welt ist nicht erfassbar. Sie zeigt sich in Ideen und Farben, in Musik und Poesie.
Glücklich, wer fähig ist, der Fülle Form geben zu können – auch wenn es zwecklos scheint –
Glücklich, wer fähig ist, die Formen mit Farben zu füllen –
Glücklich, wer sagen kann,
ich male, also bin ich.
Thomas Gerlach, Juli/Aug. 2023