Mit Helmut Raeder im Gespräch
Über Helmut Raeder, den langjährigen künstlerischen Leiter der Radebeuler Feste, einen Beitrag zu verfassen, ist kein leichtes Unterfangen. Wo fängt man an, was lässt man weg?
Wir sitzen im schattigen Innenhof von Altkötzchenbroda 21, dort, wo sich das Kulturamt, die Stadtgalerie, die Heimatstube, der Schmiede-Pub und auch das Festbüro befinden. Wir reden miteinander bei einem großen Glas Wasser, drei Stunden am Stück. Es ist das längste Zwiegespräch, seitdem wir uns kennen. Und das sind immerhin über drei Jahrzehnte. Hin und wieder bricht aus Helmut ein dröhnendes Lachen heraus.
Ich habe viele Fragen. Doch die Gedanken springen hin und her. Der Versuch, meine Liste abzuarbeiten, scheitert grandios. Ich hätte es wissen müssen. Episoden reihen sich aneinander… Dass Helmuts Weichen bereits mit 13 Monaten gestellt worden sein sollen, hat mich dann doch ein wenig verblüfft. Auf die obligatorische Frage, wie denn alles begonnen habe, kam die vergnügte Antwort: mit einem Rotkäppchenkostüm. Das ist fotografisch belegt! – Ein Junge im Mädchenkostüm!
Wo fängt man an, was lässt man weg? Helmut Raeder wurde 1956 in Dresden geboren. Hier in der Großstadt verbrachte er seine frühe Kinderzeit. Mit fünf Geschwistern wuchs er auf. Der Vater war Stellmacher, die Mutter zunächst Hausfrau, später dann berufstätig als Erzieherin. Die achtköpfige Familie zog mehrfach um: Zittau, Lauchhammer, Senftenberg. Obwohl Helmut seit über 30 Jahren wieder in Dresden lebt, fühlt er sich der Niederlausitz bis heute heimatlich verbunden. Er liebt die Mentalität der Menschen, die sanfte flache Landschaft und den Geruch der Kiefernwälder.
Im Kombinat „Schwarze Pumpe“ absolvierte er von 1972 bis 1974 eine Lehre als Gerüstbauer. Das Lehrlingswohnheim befand sich in einem Barackenlager und mittendrin das Kulturhaus, ein typischer Stalinbau, gleich daneben eine Art Bordell. „Ja, manchmal flogen die Fäuste. Der Ton war rau und direkt. Es wurde hart gearbeitet und man konnte sich aufeinander verlassen.“ Die Jahre beim Bau waren für Helmut prägend. Sein Bedürfnis, Kunst für alle erlebbar zu machen, bildete hier die kräftigen Wurzeln aus.
Erste kulturelle Ambitionen gab es bei Helmut schon während der Lehrzeit. Als das Jugendclubhaus Senftenberg Mitarbeiter suchte, nutzte er die Chance. Auch gehörte er 1977 zu den Mitbegründern des Jazzclubs Senftenberg.
Und so kam Helmut auf die Idee, ein Jazz-Konzert mit Orgel zu veranstalten. Der geeignete Ort war rasch gefunden. Die Wahl fiel auf die St. Georgskirche in Großkmelen mit ihrer Silbermannorgel. Der Pfarrer wurde schließlich überzeugt. Auch der Organist Hans-Günther Wauer und die Musiker Günter „Baby“ Sommer, Ernst-Ludwig Petrowsky und Konrad „Conny“ Bauer sagten zu – alles Größen auf dem Gebiet des Jazz und der Improvisationsmusik. Das Publikum kam geströmt, so an die 1000 Besucher müssen es wohl gewesen sein. Die Veranstaltung wurde als Gottesdienst deklariert. Der Ärger ließ nicht lange auf sich warten und der ambitionierte Kulturorganisator war seinen Job los.
Zwecks Reifung seiner Persönlichkeit wurde er 1980 zum Studium an die Fachschule für Klubhausleiter in Siebeneichen delegiert. Doch nicht alle Dozenten der sogenannten „Kultur-Kader-Schmiede“ waren eng im Kopf. So schulten sie auch den Blick der Studenten übern kulturellen Tellerrand hinaus. Das war die Zeit der Straßentheater und Liedermärkte. Der von Helmut konzipierte Meißner „Kinderjahrmarkt“, mit vielen spielerischen Mitmachangeboten, wurde als Abschlussarbeit seines Studiums anerkannt.
Sein erstes Internationales Straßentheaterfestival erlebte Helmut in Polen direkt vor Ort in Jelenia Góra. Besonders faszinierte ihn die französische Compagnie Jo Bithume. Dass diese Gruppe einmal seiner Einladung zum Wandertheaterfestival nach Altkötzschenbroda folgen würde, davon hätte er damals nicht zu träumen gewagt. Später dann, als es möglich wurde, fuhr er auch zu den wunderbaren Festivals in Frankreich, Spanien, Belgien…
Nach dem Studium erhielt Helmut fast folgerichtig eine Anstellung im Meißner Kulturamt, wo er für Feste und Festivals zuständig war. Das erste von ihm konzipierte Weinfest erstreckte sich von der Bosel bis nach Proschwitz. Danach folgte 1984 ein Weinfest in der Meißner Altstadt, in welches, wie es vollmundig hieß, das erste Straßentheaterfestival der DDR, integriert wurde.
Helmut erinnert sich, dass auf den Aushang in der Kunsthochschule „Kunststudenten bitte meldet Euch in Meißen für eine Straßenkunstaktion“ als einziger Künstler César Olhagaray reagierte, welcher bereits in Chile als Straßenkünstler aktiv gewesen ist. Schließlich holte er damals noch wenig bekannte Künstler wie den Puppenspieler Peter Waschinsky und den Fakir Achim Maatz, die Formation „Zinnober“ aus Berlin, die Dresdner Pantomimegruppe „Salto Vitale“ und das Leipziger „Theater aus dem Hut“ in die Kleinstadt Meißen. Bespielt wurden Gassen, Innenhöfe und Plätze. Es war beeindruckend. Und es kam wieder einmal, wie es kommen musste, Helmut hatte offensichtlich für einige Bedenkenträger den Bogen überspannt. Die Zuständigkeit für die Feste wurde ihm entzogen.
Glücklichen Umständen war es zu verdanken, dass Helmut im Dresdner Stadtkabinett für Kulturarbeit anfangen konnte. Der gesellschaftliche Umbruch stellte dann allerdings nicht nur seine Lebensplanung auf den Kopf.
Zum existenziell rettenden Anker wurde das von ihm im Jahr 1988 initiierte freie Wander- und Mitmachtheater „Zirkus Luft“, welches bereits im Programmflyer des ersten Radebeuler Herbst- und Weinfestes aufgeführt ist. Vor Zirkus Luft, so ergänzt Helmut, hatte es ja bereits die mobile Gruppe SPIELTOUR gegeben, die mit Künstlern verschiedenster Genres von Wohngebietsfest zu Wohngebietsfest zog. Aber wo fängt man an? Was lässt man weg?
Kulturelle Experimente wurden auch in Radebeul gestartet. Das Herbst- und Weinfest im morbiden Ambiente von Altkötzschenbroda war 1991 der ungewöhnliche Versuch, dem totgeglaubten Ort neues Leben einzuhauchen. Der überraschende Erfolg sprach für sich und sollte eine jährliche Fortsetzung finden. Zusätzliches Personal war hierfür zunächst nicht vorgesehen, denn alle machten in jener Zeit alles und das zusätzlich. Als nun der Radebeuler Schauspieler Herbert Graedtke zu Beginn des Jahres 1992 dem Kulturamt die frohe Kunde von einem geplanten Sternritt aller deutschen Karl-May-Bühnen aus Anlass des 150. Geburtstages von Karl May überbrachte und dass das Radebeuler Karl-May-Museum eine wichtige Zwischenstation sei, war Cornelia Bielig (bis 2021 im Radebeuler Kulturamt tätig) sofort begeistert und schlug vor, das Jubiläum mit einem großen Fest zu verbinden. Denn der Lößnitzgrund bot schließlich ganz im Sinne des Abenteuerschriftstellers alles, was dazu benötigt wird: Wasser, Wald, Wüste, Felsen und eine Eisenbahn.
Doch bevor der Lößnitzgrund zu Old Shatter-Land werden konnte, gab es allerlei Klärungsbedarf. Unter anderem schienen personelle Konsequenzen unausweichlich. Eine zusätzliche halbe Planstelle musste geschaffen werden und für Helmut Raeder ergab sich dadurch eine neue Perspektive. Mit sicherem Blick ordnete er das Gelände in verschiedene funktionale Bereiche, welche durch die teilnehmenden Akteure mit Leben gefüllt wurden. Die Mitveranstalter der ersten Stunde – das Karl-May-Museum, die Landesbühnen Sachsen und die Traditionsbahn – sind noch heute mit von der Partie. Auch der Indianistikverein „Old Manitou“ sowie Country-, Western- und Schützenvereine, bereichern seitdem das Programm. Aus dem Sternritt ging schließlich die große Sternreiterparade hervor. Zu den Indianern aus Sachsen gesellten sich später „echte“ Indianer aus Übersee. Die Karl-May-Festtage wurden zu einem Begriff. Und prominente Schirmherren ließen sich nicht lange bitten.
Die Dramaturgie von Helmuts Kunst- und Kulturfesten ähnelt sich. Es gibt einen vielversprechenden Auftakt, mehrere Höhepunkte und einen großartigen Abschluss. Vor allem die Kinder werden in das Festgeschehen aktiv einbezogen. Wenngleich an zahlreichen Projekten parallel gearbeitet wird, ist Helmut immer darauf bedacht, dass trotz vielfältiger Synergien, die jeweilige Spezifik nicht verloren geht. Zwischen Kunst, Kommerz und Vergnügen gilt es die Balance zu halten. Neben den großen Stadtfesten war er in Radebeul als künstlerischer Leiter auch für den Weihnachtsmarkt und ab 2019 für die Kasperiade zuständig. Das Herbst- und Weinfest gewann durch Helmut zunehmend an künstlerischer Qualität. Mit der Einbindung des im Jahr 1996 von Helmut initiierten Internationalen Wandertheaterfestivals konnten die Besucher in Altkötzschenbroda Straßentheaterinszenierungen auf Weltklasseniveau erleben.
Dass Helmuts große Liebe dem Theater auf der Straße gilt, ist kein Geheimnis. Einen langgehegten Traum erfüllte er sich ab 1998 mit dem Scheune-Schaubudensommer. Allerdings war der Zuspruch zunächst recht überschaubar. Der erste Besucher war ein Hund, erzählt Helmut lachend. Doch schon bald hatte sich das Scheune Schaubudenfest einen Kultstatus erworben und stieß an seine Kapazitätsgrenze. Die Langzeitveranstaltung der Superlative dauerte 11 Tage und 11 Nächte. Dazu kamen 4 Wochen Aufbau und 10 Tage Abbau. Die Akteure und das Publikum waren wie im Rausch. Das kreative Epizentrum der Äußeren Neustadt inszenierte sich mit Helmut als Impresario jedes Jahr neu. Zirkuswagen, Container, Zelte und Bretterbuden bildeten neben- und übereinander ein eigenwilliges Konglomerat. Vor allem mit den gewagten Gerüstkonstruktionen war Helmut in seinem Element. Theatertruppen, Bildende Künstler, Pantomimen, Gaukler, Akrobaten, Musiker, Objekt- und Aktionskünstler aus aller Welt wirkten mit an diesem heiter-skurrilen Gesamtkunstwerk. Die von Helmut und allen Mitwirkenden geschaffene Atmosphäre war unbeschreiblich.
Als es hieß, der Scheunekomplex wird umgebaut, war das Aus für den Schaubudensommer vorprogrammiert. 2019 wurde der endgültige Schlusspunkt gesetzt. „Die Planung erfolgte ohne uns“, meinte Helmut desillusioniert. Doch er gab nicht auf. Das Schaubudenfest findet nun seit 2021 auf der Hauptstraße als „Internationales Sommerfestival für Straßenkünste“ in modifizierter Version eine Fortsetzung.
Die Situation einen Kunstpreis verliehen zu bekommen, war für Helmut etwas befremdlich. Eigentlich war er ja immer derjenige, der die Leistungen von anderen würdigte. Einen Satz aus der Laudatio seines langjährigen künstlerischen Partners Heiki Ikkola fand ich sehr bemerkenswert: „Ich gratuliere der Großen Kreisstadt Radebeul zu der Entscheidung, ihren Kunstpreis 2011 dem Künstler und Menschen Helmut Raeder zu verleihen“. Ja, Helmut lebt das, was er ist und ist das, was er lebt.
Natürlich waren Familie, Freunde, Künstler und Kollegen zu diesem außergewöhnlichen Anlass erschienen. Doch über einen Gast hatte sich Helmut ganz besonders gefreut. Das war Dr. Dieter Schubert, welcher von 1991 bis 2005 in Radebeul die Funktion des Amtsleiters für Kultur und Bildung innehatte. Wie Helmut meinte, war das ein „menschlicher Glücksfall“. Von Anfang an setzte Dr. Schubert großes Vertrauen in seine Mitarbeiter und ohne dessen geschickte Vermittlung zu Politik und Verwaltung wäre wohl so manche kühne Idee auf der Strecke geblieben.
Wie man ein stabiles Gerüst baut, das hat Helmut von der Pike auf gelernt. Wie man Kunst und Kultur zelebriert, darin brachte er es zu höchster Meisterschaft. Was von einem Fest bleibt, das sind tausende Fotos und Filmsequenzen, was bleibt, das sind Programmhefte und Zeitungsberichte, was bleibt, das sind Gefühle und Erinnerungen. Wer die furiosen Feste der Lebensfreude und Fantasie miterlebt hat, der wird sie für immer in seinem Herzen tragen. Zu den jungen Menschen, die damit aufgewachsen sind, gehört der 37-jährige Björn Reinemer. Er wird nun als künstlerischer Leiter den Staffelstab von Helmut Raeder übernehmen, welcher ein letztes Mal auf nächtlicher Bühne die Abschlussgala mit der Verleihung des Wandertheaterpreises moderieren wird. Seinem Nachfolger und dem Team im Radebeuler Kulturamt sei für künftige Projekte auch weiterhin eine glückliche Hand und Mut zum kreativen Risiko gewünscht. Ohnehin muss der künstlerische Anspruch immer wieder neu verteidigt werden. Wenn auch Helmuts Ära in Radebeul endet, wird er der Kunstszene weiterhin erhalten bleiben.
Also mach`s gut, lieber Helmut, wir wissen ja, dass wir dich künftig am „Goldenen Hengst“ in Dresden, zum „Gassenzauber“ in Meißen oder auch im Pieschener „Eselsnest“ bei Elli, deiner Frau und kreativen Weggefährtin, finden können.
Karin (Gerhardt) Baum