Die Orte waren immer schon da

Laudatio zur aktuellen Ausstellung in der Stadtgalerie

Feste feiern, wie sie fallen: Radebeuler Lebensart –

Foto: Archiv Stadtgalerie Radebeul

Diesmal stehen, wie hinreichend bekannt, drei Jahrhundertfeiern an: jeweils hundert Jahre Stadtrecht für Kötzschenbroda und Radebeul, sowie hundert Jahre Museum Hoflößnitz. Wem also, können wir mit Schiller rufen, wem der große Wurf gelungen, Bürger dieser Stadt zu sein, wer ein Gläschen Wein errungen, mische seinen Jubel ein.

Das zu tun, haben wir uns heute auf den Weg gemacht, denn Feste feiern ist Radebeuler Lebensart.

Freilich verwundert es einigermaßen, daß es ausgerechnet die Kulturleute sind, die Künstler, die scheinbar eine Spaßbremse einlegen: hundert Jahre – gut und schön, mögen sie gedacht haben, ABER die Orte waren immer schon da.

Wer nun jedoch mit wissendem Blick durch die Landschaft geht, erkennt sehr schnell: Es gibt Dinge, die noch immerer da sind – wenn es denn erlaubt ist, immer schon auf diese Weise zu steigern. Denken wir nur an die überregionalen Wegeführungen, auf denen seit Jahrtausenden schon Reisende auf der hochwasserfreien Heidesandterrasse durchs Elbtal zogen, denken wir an die seit mindestens dreitausend Jahren benutzte Elbfurt bei Serkowitz und denken wir an den Fluß selbst, der sich ja das Tal erst im Zuge der Eiszeiten selbst gegraben hat. (…) Die Elbe war es auch, die vor acht oder neun Jahrtausenden die ersten Siedler aus dem Donauraum zu uns heraufgeführt hat. Und denken wir schließlich an Petrus, den Fels, an das Grundgebirge also, auf dem alles aufbaut und das nach wie vor alles trägt – in der Ausstellung ist von 570 Millionen Jahren die Rede. Genau genommen sind das alles Orte, die aus heutiger Sicht immer schon da waren.

(…)

Was aber bedeutet nun eigentlich immer schon?

Hier lohnt es sich, doch noch einmal ganz kurz in die Geschichtsbücher zu schauen. Mit dem hehren Anspruch, als solide Wissenschaftler zu gelten, treten Historiker meist als Zahlenjongleure auf. Das macht ihren Berufsstand vielleicht ehrbar, aber nicht unbedingt sympathisch. Jedenfalls datieren sie das Werden unserer Lößnitzdörfer exakt – und darauf kommt es ihnen an – in die Anfangsjahre der Kolonisationszeit, also an den Beginn des 12. nachchristlichen Jahrhunderts. Naundorf, das neue Dorf, taucht 1144 erstmals in einer Urkunde auf. Daraus kann scharfsinnig gefolgert werden, daß die anderen Dörfer wenigstens etwas älter sein müssen – sie waren jedenfalls um 1140 nicht mehr neu. Genaueres findet sich bestenfalls noch im Reich der Spekulation. Dort fühlen wir uns im postwissenschaftlichen Zeitalter ja ohnehin am wohlsten. Alternative Tatsachen, also aus dem Netz gefischte Blüten kollektiver Dummheit, haben ja der wissenschaftlichen Erkenntnis längst den Rang abgelaufen. – Ich fürchte, wir werden da bald noch so manche Überraschung erleben…

Aber zurück zum Thema:

Letztlich ist auch der Wein immer schon da, und mit ihm die Hoflößnitz. Das kurfürstliche Berg- und Lusthaus sah sogar mal eine große Zukunft vor sich liegen, die August der Starke eigenhändig entworfen hatte. Viel ist nicht geblieben davon, mit Ausnahme vielleicht der Spitzhaustreppe, (…). Na, und ein Gläschen Wein gibt’s dort gegen ein – nun ja – geringes Entgelt immerhin auch zu gewinnen.

Gemeinhin ist ja das Wort immer aufs Engste mit ewig verbunden. Und ewig ist, wie Gerhart Hauptmann auf Hohenhaus erfuhr, ewig ist, was ein Mensch bei dem Worte empfindet. Es ist also ans eigene Erleben gekettet. Daher ist auch oft die Formulierung zu hören: soweit ich mich erinnere, gibt’s die Dörfer immer schon…

Was Kötzschenbroda anlangt, reicht meine Erinnerung bis an den Anfang der 1980er Jahre zurück. Damals war die Lehre von Marx noch unsterblich, weil sie wahr ist. Das kleine Land am Rande der Welt, das all sein Hoffen, all sein Sehnen an diesen Satz knüpfte, hatte sich zugleich in den Besitz allen Fortschritts gesetzt und war gerade dabei, alles Alte auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen. Dazu gehörten auch unsere Dörfer, obwohl oder weil sie immer schon da waren. Sie brauchten nun nicht mehr für die Lebensgrundlagen zu sorgen – sie waren sozusagen überflüssig. Dem sofortigen Abriß waren nur noch die dort wohnenden Menschen im Wege, die sich einfach nicht entsorgen lassen wollten. Also wurde die Umgebung zunächst gründlich verunattraktiviert: Oberschenke zu, Goldener Anker Möbellager, überall bröckelte der Putz und Dachziegel gabs auch keine. Erst jüngst haben die wunderbaren Fotos von Harald Hauswald hier in der Galerie die – durchaus nicht nur negativen – Erinnerungen aufleben lassen: ja, SOO sah es hier mal aus, und ja, genau so haben wirs erlebt.

Foto: Archiv Stadtgalerie Radebeul

Besser geht’s gar nicht.

Und obwohl – oder weil – es hier so aussah, wie es aussah, ist aus dem Abriß nichts geworden. Weil es immer schon da war, blieb das Dorf in der Stadt als Dorf erhalten, auch wenn vom eigentlich dörflichen Leben, also von Hühnern, Schweinen und Pferden und was sonst noch dazu gehört, nicht viel geblieben ist.

Ja, mehr noch, heute streiten sich die Geister, wer das goldene Ei gelegt hat, aus dem Kötzschenbroda gleich dem Phönix aus der Asche schön wie nie erwachte. Die Sehnsucht nach Dauer scheint eben doch größer zu sein, als der Wunsch nach Teilhabe am Fortschritt. Das verleiht mir nun wieder die Hoffnung, daß vielleicht eines Tages die natürliche Intelligenz erwacht, die künstliche überwindet und am Bargeld festhält – das jedenfalls, das Bargeld, ist deutlich älter, als unsere Dörfer und in diesem Sinne auch immer schon da. Wir sollten es, wie die Elbe und die Dörfer schützend bewahren.

Feste feiern ist Radebeuler Lebensart. Und dank der Orte, die immer schon da waren, und der Städte, die aus ihnen wuchsen, gibt es zum Feiern immer wieder gute Gründe. Für alles andere sorgt der Wein – Er wird uns, wenn die natürliche Intelligenz ausreicht, erhalten bleiben – von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Thomas Gerlach

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