Geschichten aus der Kindheit – (Teil 3/12)
Jetzt möchte ich etwas von meinen Kinderferienreisen erzählen, so weit ich mich noch erinnern kann, zumeist mit Tante Emma. Von Oberbärenburg habe ich ja schon berichtet. Im ersten Kriegsjahr wechselte Tante Emma einmal von Oberbärenburg nach Bärenfels hinüber und nahm mich mit. In der Villa Marie gefiel es mir auch sehr gut, besonders der Pavillon im Garten, in dem nachmittags Kaffee getrunken wurde. Ich bekam meine obligatorische Milch mit Zwieback, was ich aber sehr gern aß. Im Pavillon lagen auch alte Ausgaben der „Fliegenden Blätter“. Ich konnte schon lesen. Besonders beeindruckt hat mich die Zeichnung einer alten Lokomotive mit den folgenden Versen, die ich hiermit der Nachwelt erhalten möchte. Eigenartig, dass ich mir diese über den langen Zeitraum so behalten habe. Also es geht so:
Was kreucht da an dürrer Heide entlang
auf rosterfressenem Schienenstrang?
Eine alte Lokomotive!
Hohläugig beschauet der Führer den Pfad,
nur langsam drehen sich Kurbel und Rad,
es ist, als ob alles entschliefe.
Es ist die Sekundärbahn, die weil sie verkracht,
zur Strafe muß fahren in finstrer Mitternacht.
Und ist es schon morgens zwischen zwei und drei,
schwerfällig ächzt der Gespensterzug vorbei.
Er hat sich wie immer verspätet…
Einmal fanden wir bei unserem Spaziergang eine Brieftasche mit einer Lebensmittelkarte und 100,- RM. Da auf der Karte die Adresse stand, konnten wir unseren Fund der dankbaren Köchin eines großen Ferienheimes zustellen. Sie gab uns derart viele leckere Eßwaren mit, daß wir den großen Beutel kaum tragen konnten. Geld hatte Tante Emma abgelehnt.
Es muß 1941 gewesen sein, als Tante Emma mit Wolfgang und mir nach Tetschen-Bodenbach fuhr, in den damaligen Sudetengau. Eine Stunde D-Zug – unter dem machte es Tante Emma nicht – war für uns eine große Sache. Besonders imponierte uns der Tunnel kurz vor Bodenbach. Wir wohnten am Markt im Hotel „Zur Post“. Tante Emma zeigte uns Birkigt, ein kleiner Ort in der Nähe Tetschens, wo sie mit Onkel Hans gelebt hat und viel uns aus dieser Zeit erzählt hat. Erst wohnten sie in der Papierfabrik von Jordan&Söhne unte an der Polzen. Onkel Hans war bei dieser Firma Prokurist und Tante Emma zeigte uns die Fenster ihrer ehemaligen Wohnung. Später übernahm sie in Pacht die Zigeunermühle an der Doberanke, die in die Polzen mündet. Als Frau eines Prokuristen war es ihr nicht möglich, einer Arbeit nachzugehen und das untätige Leben war sie nicht gewöhnt. In der Mühle fand sie ein reichliches Betätigungsfeld. Nebenan wohnten Riedels, mit denen sie gute Nachbarschaft hielt.
Als wir an einem Sonntagmorgen im Hotel zum Frühstück herunterkamen, saß zu unserer großen Überraschung und Freude Muttel am Frühstückstisch. Sie mußte mit dem nächsten Zug wieder nach Hause fahren und noch heute ehe ich sie in der Sonne am Fenster sitzen. Ich denke, sie wird gar nicht ins Bett gekommen sein. Ihren Kindern eine Freude zu machen, da war unserer Mutter nichts zu viel. Tetschen, das ich erst nach vielen Jahren einmal wieder sah, war mir sofort wieder vertraut mit dem großen Brunnen auf dem Marktplatz.
Kurz bevor es wieder heimging, liefen wir von Tetschen aus nach Birkigt. Es war ein sehr warmer Oktobertag. Tante Emma bewahrte immer vom letzten Weihnachten Lebkuchen auf und nahm sie auf Reisen mit. Ich wusste, dass sie diesmal Oblatenpfefferkuchen in der Tasche hatte und plagte sie so lange, bis mir die genervte Tante das Päcken gab mit den Worten: „Na, dann friss rein…“ Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und begann zu futtern. Wir kamen bei Knies vorüber, die noch immer seit Tante Emmas Zeiten ihren Kolonialwarenladen hatten. Auf den vielen Pfefferkuchen bei der Wärme hatte ich natürlich Durst und stürzte das kellerfrische Malzbier in mich hinein. Die Folgen waren verheerend, wie man sich denken kann. Tante Emma war gezwungen, mich bei Riedels in Pflege zu lassen und holte mich nach drei Tagen wieder ab. Dass Muttel zu Hause wenig begeistert war, kann man sich vorstellen.
Dies sollte der Oktober gewesen sein.
Christian Grün