Perspektivwechsel

Eine Weihnachtsgeschichte aus unserer Zeit
An der Kasse war es dann doch überraschend schnell gegangen, der vollgepackte Wagen mit dem Feiertagseinkauf musste nur noch zum Auto gerollt werden. Er ging noch einmal die Einkaufsliste durch – ja, er hatte an alles gedacht. Norwegischer Bio-Lachs für Heiligabend, Geflügel aus regionaler Schlachtung für den ersten und Grillgemüse mit Schupfnudeln für den zweiten Feiertag, dazu gute Weine, Obst, Brötchen, Brot, Milchprodukte und Aufstriche für vier Tage. Weihnachten konnte kommen. Ziemlich teuer das Ganze, dachte er, aber was soll’s. Man gönnt sich ja sonst nichts. Wozu geht man arbeiten. Bloß gut, dachte er, dass er nicht so genau auf den Cent schauen musste. Er bedauerte insgeheim diejenigen, die sehr genau überlegen und rechnen mussten. Ein Netz mit 1,5 kg Orangen oder doch lieber acht Äpfel in der Pappschale? Für ihn stellte sich die Frage nicht, er hatte beides mitgenommen. Er hatte sich an der Supermarktkasse beim Warten umgeschaut und gewundert, was andere Leute vor ihm so auf das Band legen. Der schlecht rasierte alte Mann. Die junge Mutter mit zwei quengelnden Kindern. Die Frau mit den strähnigen Haaren hinter ihm. Sollten das tatsächlich Weihnachtseinkäufe sein? Er war schon auf dem Weg zum Auto, als er sich erinnerte, dass er noch Fahrkarten für die Straßenbahn kaufen wollte, in der Innenstadt würde man schlecht parken können. Eine 4er-Karte, damit er sich am Abend nicht darum kümmern müsste. Er stellte fest, dass ihm auch Bargeld fehlte. Nach der Christvesper wollte er wie immer etwas in den Korb am Ausgang werfen. Wie sagte der Pfarrer immer? „Es darf gerne rascheln.“ Er schob den Wagen zum Geldautomaten und tippte den Betrag ein. Ein Bekannter grüßte im Vorübergehen, wünschte „Frohe Weihnachten“, im Reden nahm er die Karte aus dem Schlitz, steckte sie ein, wandte sich wieder dem Bekannten zu, sie gingen scherzend nach Draußen, ein Händedruck und schon packte er alles in seinen Tesla. Er brachte den Einkaufswagen zurück und ging zum Fahrkartenautomaten. Er traf die Auswahl und wurde zur Zahlung aufgefordert. Das Portemonnaie aber war leer. Die paar Münzen reichten nicht.
Jedes Jahr das Gleiche. Weihnachten steht vor der Tür und hinten und vorn fehlt das Geld. Ach was, schlimmer wird’s mit jedem Jahr. Was soll’s, sagte sie, es wird schon gehen. Wie es halt immer gegangen ist. Süßkram für die Enkel, für Tochter und Sohn irgendwelche Artikel aus der Werbung. Vielleicht kann Yvonne ja doch eine neue Küchenwaage gebrauchen. Die hier sieht ja ganz gut aus und ist sogar von einer Marke. Für Marco ein Set mit Schrauben und Dübeln. Wo er doch immer so gern handwerkt. Das braucht er sicher. Irgendwann mal. Oder auch nicht. Sie seufzte und beruhigte sich mit dem Gedanken, dass es auf die Geste ankäme. Für sich selbst erwartete sie gar nichts. Besser so, als dann enttäuscht werden. Sie stand an der Kassenschlange und schaute sich um. Der Mann vor ihr, was sich der alles leisten kann. Lachs. Geflügel von der Frischtheke wie es scheint, Wein und sonstwas. Der verdient bestimmt gut. Hat der’s gut. Packt sich seinen Wagen voll und macht sich’n Lenz mit seiner Familie. Wenn der wüsste, wie es anderen Leuten geht. Der kennt das gar nicht. Muss sich nicht überlegen, ob 1,5 Kilo Orangen oder 1 Kilogramm Äpfel. Der nimmt einfach beides. Jetzt bezahlt er. Für den Betrag würde sie Sachen für drei Wochen holen. Weg isser. Dann war sie an der Reihe. Es dauerte nicht lange und sie hatte bezahlt. Bar natürlich. Sie packte ein und dachte eine Weile nach. Eigentlich müsste sie noch zum Bäcker, wenigstens einen halben Stollen für Heiligabend und die Feiertage. Das Geld im Portemonnaie reichte nicht, also musste sie Geld holen. Sie überschlug den Kontostand im Kopf. Noch vier Werktage bis wieder Geld vom Amt kam. 20 Euro müssen reichen, dachte sie, und ging zum Geldautomaten. Niemand stand dort, sie würde nicht warten müssen. Sie war noch gar nicht richtig angekommen, da sah sie im Geldausgabeschlitz ein Bündel Scheine. Sie nahm es, blickte sich um. Wer war vor ihr dort gewesen? Sie wartete. Würde jemand kommen? Sie wartete. Was sollte sie machen? Sie wartete und dachte dabei an den Stollen. Sie dachte daran, was sich ihre Enkel vom Weihnachtsmann gewünscht hatten. Sie dachte an Yvonne und Marco und wie die beiden schufteten und dann doch kaum etwas am Monatsende übrig blieb. Sie dachte auch daran, was sie sich so sehnlich wünschte. So lange war sie schon nicht mehr beim Friseur gewesen. Sie blickte sich um, nahm das Geld, steckte es ein und ging.
Offenbar hatte er das Geld liegen lassen. Wie dumm! Er beruhigte sich mit dem Gedanken, dass ihm das noch nie passiert war. Schnellen Schrittes ging er wieder zum Geldautomaten, vielleicht war das Geld noch da. Es war weg. Er ärgerte sich über sich selbst und kurz darauf hob er die gleiche Summe noch einmal ab, steckte das Geld ein, holte sich die Fahrkarten und ging Richtung Parkplatz. Vielleicht hat das Geld jemand gefunden, der es gut gebrauchen kann, dachte er bei sich. Bei dieser Vorstellung wurde ihm etwas wohler zumute und es durchzuckte ihn in der Gedanken, als würde seine Vergesslichkeit womöglich etwas mit Weihnachten zu tun haben. Auf dem Weg zurück zum Auto musste er beim Friseur vorbei. Durch die Scheiben erkannte er die Frau mit den strähnigen Haaren wieder. Sie schien sehr glücklich zu sein, denn sie lächelte versonnen vor sich hin. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Es wurde das schönste Weihnachtsfest seit langem. Für beide.

Bertram Kazmirowski

 

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