Weißes Roß

Der Januar

Winterimpressionen im Innenhof Foto: Archiv C. Grün

Wenn das lang herbeigesehnte Weihnachtsfest vorbei war – wie lang erschien uns Kindern damals ein Jahr – dann begann es langsam mit dem Schnee. An so genannte „Grüne Weihnachten“ kann ich mich oft erinnern, im Januar blieb der Schnee dann meist liegen. Ungeduldig waren schon die Schlitten aus der „10“, dem unteren Vorraum des Garagenbodens, hinter unseren Kinderfahrrädern hervorgeholt und von Staub und Spinnweben befreit worden. Wolfgang schmirgelte mit Sandpapier die Kufen ab und rieb sie mit Speckschwarte ein. Ich kann mich noch erinnern, dass ich einmal lange am Kinderstubenfenster gestanden habe und mit Inbrunst „Schneeflöckchen Weißröckchen“ gesungen habe. Und dass es dann tatsächlich zu schneien anfing, ein kleines Kinderwunder.

Endlich hatte sich der Grasgarten in eine weiße, in der Wintersonne flimmernde Fläche verwandelt. Immer wieder war ich angetan von den bunt funkelnden Schneekristallen. So stellte ich mir den Eispalast der Schneekönigin hoch oben im eisigen Norden immer vor, strahlend und gleißend. Über die unberührte weiße Fläche durfte um nichts in der Welt drübergelatscht werden, nur dort, wo die Schlitten eine Spur zogen. Wolfgangs Schlitten war neu, sehr stabil aus hellem, lackiertem Holz, bei Leiter-Franke gekauft. Ich musste, wie in vielen Dingen, Muttels Utensilien aus ihrer Kinderzeit benutzen, auch z.B. den Schulranzen. Mein Schlitten war lang und schmal und hatte nur einen Sitz im hinteren Drittel aus Leinwand. Da diese morsch geworden war, bekam der Schlitten längs und quer ein Gurtband gespannt, angefertigt vom Polstermeister aus Wahnsdorf. Er besserte jeden Sommer auf dem Garagenboden die in sein Fach schlagenden Möbel aus und hatte eine etwas wimmernde Stimme. Oma verbot uns strengstens darüber zu lachen. Dann war in unserem Schlittenarsenal noch die Käsehitsche vorhanden, klein und einsitzig.

Vater Pätzold, das Faktotum Foto: Archiv C. Grün

Mit Begeisterung wurde im Hühnergarten Schnee zu großen Ballen gerollt, die dann zu einer Schneebude verbaut wurden. Ich kann mich noch erinnern, dass Wolfgang hineingekrochen war und plötzlich der ganze Bau über ihm zusammenbrach. Ein älterer Junge, er hieß Lipsky, zog Wolfgang an den Beinen heraus, es war wirklich Eile geboten. Ältere Kinder waren bei Oma und Muttel nicht so beliebt, beide waren davon überzeugt, dass sie uns nur zu Unfug verleiteten. In diesem Fall war es aber recht gut, dass ein älterer dabei war. Infolge dieses Geschehens wurde das Bauen von Schneebuden strikt verboten. Aber findig wie wir waren, fanden wir eine große Holzkiste, die wir mit Schnee umpappten. Vater Petzold, Omas Haus- und Hoffaktotum, nagelte einen Sack vor die Öffnung, so konnten wir trotz der Kälte eine Weile darinnen hocken.

Wir sind natürlich auch viel rodeln gegangen. Erst in der Nähe, dann wurde mit zunehmenden Alter der Aktionsradius immer mehr erweitert. Nähe, das bedeutet, dass wir den Hof und den kleinen Abhang unserer Wiese am Mühlweg hinunterfuhren. Die Obstwiese war damals noch nicht aufgefüllt und stand bei Hochwasser, welches der Lößnitzbach mit sich brachte, ständig unter Wasser. Die bis hinunter an die Kleinbahnschienen über die Lößnitzgrundstraße hinweg war dann einige Winter unsere Rodelbahn. Autos gab es kaum, es war Kriegszeit. Nachdem wir eine Weile mit den Schlitten solo gerodelt waren, wurde Bob gemacht. Alle vorhandenen Schlitten wurden hintereinander zusammengebunden und vornweg Wolfgang mit seinem stabilen Gefährt. Am Ende hing die Käsehitsche dran, die während der Abfahrt unheimlich hin und her schlenkerte. Und damit komme ich auf Gunther. Er war ein sogenannter Mongoloid, etwa zehn Jahre älter als wir, aber auf unserer Entwicklungsstufe stehengeblieben. Seine Mutter war froh, wenn er mit uns ziehen konnte. Zu unserer Ehre sei gesagt, so richtig geärgert haben wir ihn nicht. Allerdings wurde er auf Kinderart zu Handlungen genutzt, zu denen keiner Lust hatte. Er musste verschossene Bälle zurückholen, oftmals aus dem Gestrüpp. Oder er musste herbeiholen, was wir gerade so brauchten. Gunther tat ziemlich freudig, was wir von ihm verlangten, hatte er es satt, ging er nach Hause. Beim Bobfahren war es für Gunther selbstverständlich, dass sein Platz auf der Käsehitsche war. Er konnte sich meistens nur bis zum halben Berg halten, dann warf es ihn hinunter. Unverdrossen wartete er oben am Abfahrtspunkt, um dann wieder auf der Hitsche Platz zu nehmen. Gunther trug gestrickte weiße Fingerhandschuhe, die von unseren bunten Fäustlingen seltsam abstachen. Er starb in den Hungerjahren nach 1945, weil er die ungewohnte Nahrung strikt verweigerte.

Gefährlicher zum Rodeln war die Haarnadelkurve (oberer Teil der Hoflößnitzstraße) oberhalb der Grundmühle. An einen Unfall aber kann ich mich nicht erinnern, Der Sternweg, er geht vom Augustusweg vor der Baumwiese rechts ab, war auch eine beliebte Rodelbahn. Nur waren wir meist zu faul bis dahin zu laufen. Und zu Seiferts Wiesen nach Wahnsdorf sind wir später nur mit Skiern hingekommen. Das waren so unsere Winterfreuden bis weit in den Februar hinein, wenn der Schnee liegen blieb.

Zuhause wurde mit den Spielsachen gespielt, die wir zu Weihnachten bekommen hatten. Die Regale und Schubfächer von Wolfgangs Kaufmannsladen und meiner Puppenküche waren vom Weihnachtsmann neu aufgefüllt worden. Das waren leckere Dinge aus Marzipan, Butterstückchen in Kleeblattform, Würste und Brote und auch buntbestreute Schokokladenplätzchen. Leider war der Vorrat in meiner Puppenküche schnell verbraucht und so bediente ich mich heimlich in Wolfgangs Kaufmannsladen. Wenn er die leeren Fächer aufzog, bezog ich regelmäßig meine Dresche. Meine Puppen, sechs an der Zahl, die Brunhilde, die Krimhild, die Heidi, die Steffi, die Ursel und der Puppenjunge Siegfried waren von Muttel auch neu eingekleidet worden. Sie, die für Näherei sonst nie einen Nerv hatte, entwickelte sich zu einer wahren Modistin.

Als Juttel in das Alter kam, dass sie meinen blauen Puppenwagen kriegen sollte, wurde mein großer Weihnachtswunsch, lang ersehnt, endlich erfüllt. Ich bekam einen schicken Puppensportwagen, die damalige Bezeichnung für Wagen für Kleinkinder, die aus dem Babyalter heraus waren. Dieser elegante Wagen war der Stolz meiner Puppenzeit. Leider haben meine Herren Söhne später alles zur Minna gemacht, indem sie damit, mit allem Möglichen beladen, im Hof herumkapriolten. Jungen fehlt eben für so etwas der Sinn.

Das war der Januar unserer Kinderzeit.

Christa Stenzel/ Christian Grün

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