Weißes Roß – Geschichten aus der Kindheit

„Im Märzen der Bauer sein Rößlein einspannt“. Dieses Kinderlied haben wir oft und gern gesungen. Ich habe mir immer zwei große dunkelbraun glänzende Pferde in einer osterhasengrünen Landschaft vor dem Pflug vorgestellt.
Die Kinder, die im März Geburtstag hatten, wurden Märzhasen genannt. Dazu gehörten Inge und Wolfgang. Da sie sich fast gleichzeitig anmeldeten, war die ganze Nachbarschaft gespannt, welcher von beiden zuerst auf die Welt kommt. Muttel hatte Folgendes erzählt: als sie sich abends noch ein wenig im Hof erging, sah sie eine große Sternschnuppe über Heyls Haus herniedergehen. Wenig später kam Herr Heyl herüber und meldete die Geburt einen gesunden Mädchens, der Inge. Fünf Tage später kam dann Wolfgang als Stammhalter im „Weißen Roß“ an. Die Kinder kamen in der Regel zu Hause auf die Welt, unter Obhut unserer guten „Storchentante“ Teichert, die mir auch bei meinen Söhnen Michael und Uwe half.
Ich möchte noch einmal auf die Familie Wolf zurückkommen, mit diesen guten Menschen verbindet sich ein großer Teil unserer Kindheit. Sie wohnten an der Stadtgrenze zu Dresden. An der Siedlung, es sind Doppelhäuser mit je einem kleinen Garten, in dem eine kleine Holzlaube nicht fehlen durfte. Darin wurde Sonntags Kaffee getrunken.
Es war für uns immer ein Ereignis, wenn uns unsere Wo mit sich nach Hause nahm. Der ziemlich lange Weg wurde gelaufen. Erst die Pestalozzistraße an der Kleinbahn entlang, weiter die Sidonienstraße vor, die in die Forststraße einmündete. Nach der Eisenbahnbrücke war es dann die Seestraße, die bis zur Siedlung geht. Mit der Seestraße verbindet sich auch eine Erinnerung im Zusammenhang mit Wolfgang. Er hatte als Kind hin und wieder Jähzornsanfälle, ein Erbteil unserer Muttel, die da auch manchmal grandiose Stücke lieferte. Als einmal ein Gast das Essen monierte und den Teller zurückgab, schmiß sie diesen durch die ganze Küche bis in die Aufwaschküche, dass es nur so scherbelte, denn sie traf auf dort abgestelltes Geschirr. Wolfgang hatte seinen Jähzorn später abgelegt. Wenn er jedenfalls als Kind wieder einmal verrückt spielte, wurde ihm mit der von Wo erfunenden Frau Riemer gedroht, die in der Seestraße in einem großen Mietshaus wohnen sollte und zu der die bösen Kinder gebracht würden. Als wir einmal an dem Haus vorbei kamen, hörten wir aus einem geöffneten Fenster ein Kind mörderisch schreien. Wolfgang glaubte fortan an die Existenz der Frau Riemer und mäßigte sich, denn dorthin wollte er auf keinen Fall. Wenn uns die Wo am Abend wieder ins „Roß“ hinunterbrachte, strahlte der Springbrunnen am Wasserwerk Neubrunnstraße in farbigem Licht.
Wolfs hatte zwei Kinder, Edith und Hasel, die aber bedeutend älter waren als wir. Hansels Zimmer war auf dem Boden und wir durften in der dort aufbewahrten Spielzeugkiste kramen. Ich angelte mir sofort mein Lieblingsbilderbuch, in dem die Sonne die Kinder durch den Tag begleitet. Und ich konnte mich an dem letzten Bild nicht sattsehen, auf dem die rote Sonne hinter dem dunklen Waldessaum sich zufrieden in ihr weißes Wolkenbettchen hüllt.
Herr Wolf war von Beruf Modelltischler und er fertigte meine Puppenküche samt Möbel an; es war gute deutsche Handwerksarbeit. Nach mir spielten noch meine Enkelinnen Peggy und Ännchen mit dieser Puppenküche. Die Möbel sahen aus wie neu, nur die Tapete hatte sich im Laufe der Jahre etwas verschlissen. Als Unikat aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts habe ich meine Puppenküche unserem Volkskundemuseum in Dresden, früher Oskar-Seiffert-Museum, vermacht.
Dann bekamen wir von Herrn Wolf einen Adventskranz von ganz einmaliger Art. Auf einem blauen Reifen steckten abwechselnd mit den vier Lichtern laubgesägte Engel, Zwerge und Tannebäume. Als wunderschöne WHF-Anhängerchen (WHF = Winterhilfswerk) in der Adventszeit heraus kamen, Miniaturfigürchen von Nußknackern, Engeln, Räuchermännchen und noch anderes mehr aus dem Erzgebirge, kaufte Vater gleich mehrere Sätze, und die kleinen Figuren hingen fortan unten am Kranz, ein lustiger bunter Reigen. Ich habe unsere Kinderstube noch leibhaftig vor Augen.
An der Tür zur Treppe wurde in der kalten Jahreszeit eine Decke bis etwa der halben Höhe gehängt. Das war unser Kasperletheater, bis wir später ein richtiges zu Weihnachten bekamen. Ich bekam einmal Kasperlepuppen geschenkt, und die konnten ihre Schlenkerbeine so richtig über den Deckenrand werfen.
Das sind meine Erinnerungen, die sich so ungefähr im März abspielten.

Christa Stenzel/ Christian Grün

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