Was wird bleiben?
(für N.)
Morgenröte verkündet den neuen Tag.
Auf den Dächern der Häuser und im Geäst der hohen Bäume glitzert Raureif. Die Wiese glänzt wie von tausend Diamanten. Frühdunst schwebt über dem Wasser, und Susanna steigt, aufrecht, stolz und schön und ohne sich weiter um die Blicke der Neugierigen zu kümmern, aus dem Bade. In wärmende Wolle gehüllt setzt sie sich auf die Terrasse, atmet die Frische des erwachenden Tages und lauscht in die Stille hinein. Hin und wieder schwirren, eifersüchtig von den beiden Katzen beäugt, ein paar Meisen ums Vogelhaus. Susanna liebt das sanfte und doch auch harte Klack, mit dem sich die kleinen Federbällchen an die Brüstung krallen. Unten im Park reibt sich das Einhorn den Hals am schorfigen Stamm der alten Eiche und knabbert dann an der Rose.
Was wird bleiben von der Ruhe, sinniert Susanna, wenn der Stillstand Geschichte, die Pandemie bewältigt ist? Werden wir Langsamkeit gelernt haben, oder wird das Rasen noch irrsinniger als vorher?
Da geschieht etwas auch für Susanna höchst Merkwürdiges: Gemessenen Schrittes, ganz der feierlichen Morgenstimmung angepaßt, tritt ein Landschaftsgärtner aus dem Dunst und legt einen Laubbläser vor ihr auf die Terrasse. Mit einer angedeuteten Verbeugung verschwindet er im Ungewissen und macht einem Hausmeisterdienst Platz, der eine Motorsense und einen Laubsauger ablegt. Es folgen, zünftig in Ledermontur und mit Fransen an den Nähten, Biker mit ihren hochgetourten Maschinen, nicht mehr ganz so jugendliche Mopedpiloten, deren Maschinchen sich nur im Vollgas ganz langsam fortbewegen und dabei ein Geräusch verursachen, als würden sie über sich selber weinen. Die Reihe der Bringer reißt nicht ab. Schließlich liegen all die schweren Bohrhämmer vor Susanna auf der Terrasse, die Rüttelplatten, Motorspritzen, Rasenmäher, usw. usf., die uns übers Jahr den Aufenthalt im Freien unerträglich machen. Am Ende deckt ein Lufthansapilot den Kondensstreifen eines Überschallflugzeuges über alles Dargebrachte.
Susanna erhebt sich mit einem Lächeln.
Das braucht nun niemand wehr, sagt sie zum Einhorn und weist mit flinker Hand auf den Stapel der seltsamen Gaben, bring das hier weg, bevor sichs einer anders überlegt.
Die Zeit ist reif, heißt es im Lied.
Drauf steigt sie, ohne sich weiter um die Blicke der Neugierigen zu kümmern, ins Bad.
Leise beginnt es zu schneien.
Der Schnee macht die Stille noch tiefer.
Thomas Gerlach