Erinnern ist Wissen, Denken und Fühlen

Ein Gespräch mit Ingrid Lewek zum 27. Januar

Erinnern kann vieles sein: der Versuch, angenehme Gefühle zurückzuholen, eine Person zu würdigen, Vergessenes aufleben zu lassen. Nicht immer ist es leicht. Am 27. Januar gedenkt Deutschland der Opfer des Nationalsozialismus. Ganz groß im Bundestag, kleiner in Radebeul.

Ingrid Lewek und Wolfgang Tarnowski an den Ehrensteinen vor dem Radebeuler Rathaus. Beide erhielten 2017 den Preis des Couragevereins Radebeul
Bild: privat


Frau Lewek, das, woran wir jährlich am 27. Januar oder auch am 9. November erinnern, ist nun schon über 70 Jahre her. Die moderne Gesellschaft ist nicht dafür bekannt, sich lange mit der Vergangenheit zu befassen. Offiziell gibt es Gedenkfeiern im großen Rahmen. Warum ist es Ihnen dennoch wichtig, der Opfer des Nationalsozialismus hier in Radebeul zu gedenken?

Ingrid Lewek | Die großen Feierlichkeiten sind wichtig, aber sie gehen ins Weite. Wenn man aber der Menschen an dem Ort gedenkt, wo das schreiende Unrecht geschah, entsteht ein eigener Bezug.

Fünf Stolpersteine an der Moritzburger Straße 1 in Radebeul leuchten mehr oder weniger gegen das Vergessen an. Jedes Jahr am 9. November kommen hier Menschen zusammen, um an zwei Familien zu erinnern, die von den Nazis verschleppt und umgebracht wurden. Sie kannten das Mädchen Irmgard Zeitler, das diese Familien besucht hat.

Ingrid Lewek | Irmgard wohnte im Hinterhaus, und ihre Familie hat ihr erlaubt, sich um das jüdische Mädchen Marion zu kümmern – bereits das ein Wagnis. Ich erzähle immer wieder gern davon und freue mich, wenn jedes Jahr ein paar mehr Menschen zum Gedenken kommen und zuhören. Sich in der Nazizeit um jüdische Menschen zu kümmern, war gefährlich. Deren Isolation war damals das Normale. Kontakte zwischen jüdischen und nicht jüdischen Menschen waren sehr gewagt, für beide Seiten. Das Mädchen, das das dennoch tat, wurde selbst diskreditiert, auch von ganz normalen Leuten. Ihrer Familie sagte man nach, sie sei „tüchtig rot“. Allein das war eine Gefährdung. Aber sie ließ sich nicht einschüchtern. Nachdem Marion Freund als jüdisches Kind nicht mehr zur Schule gehen durfte und auf dem Hof andere Kinder nicht mit ihr spielten, ging Irmgard zu ihr, brachte ihr Hausaufgaben, spielte mit ihr und sie machten gemeinsam Handarbeiten mit ihrer Großmutter. Wenn die „Kontrollen“ kamen, wurde sie schnell im Wandschrank versteckt, damit nicht auch sie in den Fokus der Gestapo geriet. So sorgten sich die Verfolgten um andere!

Immer wieder haben Sie jungen Menschen von ihnen und ihrem Schicksal erzählt. Leugner gibt es immer noch.

Ingrid Lewek | Den ewigen Leugnern kann man nichts erzählen. Die hören gar nicht hin. Sie haben ihre Anschauung und bleiben dabei. Wichtiger finde ich, dass inzwischen viele Jüngere sich fragen, wie ihre Eltern und Großeltern damals gelebt haben. Ob sie auch nichts sahen, vielleicht weil sie weggeschaut haben? Oft bekommen sie keine Antworten. Es ist ja kein angenehmes Thema, das eigene Unvermögen einzugestehen. Die meisten bleiben dabei, sie hätten nichts gewusst. Ich weiß aber, dass es auch in Radebeul Nachbarn gab, die sich beklagt haben, sie wollten nicht mit Juden unter einem Dach leben. Und wenn die Menschen deportiert wurden, gab es oft genug Plünderungen ihrer Wohnungen. Die Nachbarn warteten hinter ihren Wohnungstüren, und sobald die Gestapo mit den festgenommenen Menschen das Haus verlassen hatten, fielen sie über die Habe der Deportierten her. Es gab Prügelszenen um die Dinge. Das Wort „Schnäppchenjagd“ fiel in diesem Zusammenhang. Ich kann es nicht mehr hören! Sehr viele haben sich so verhalten. Aber in der Moritzburger Straße 1 soll das nicht so gewesen sein.

Sie haben das hilfreiche Mädchen, Irmgard Zeitler, später noch am Telefon gesprochen?

Ingrid Lewek | Ja, als schon ältere Frau. Als ich an unserem Buch schrieb, bekam ich ihre Telefonnummer und konnte viel mit ihr über Marion und ihre Familie sprechen. Irmgard lebte in Thüringen. Sie war gerührt und dankbar dafür, dass es hier ein Erinnern gibt. Marion war ihre einzige Freundin geblieben. Inzwischen lebt auch Irmgard nicht mehr.

Frau Lewek, ist Ihnen jemals erklärlich geworden, warum jüdische Menschen immer wieder gehasst, oft auch einfach abgelehnt werden?

Ingrid Lewek | Ich denke, ein Motiv war von jeher der Neid auf Bildung und Besitz. Bei den Juden konnten die Kinder schon ab vier Jahren lesen und schreiben lernen. Übrigens: seit dem Mittelalter war das so. Und deren wirtschaftliche Erfolge waren auch vielen ein Dorn im Auge. „Jüdischer Besitz in arische Hände“ war tatsächlich ein Slogan in Deutschland!

Die Wegnahme und Verwertung des Eigentums jüdischer Menschen hatte System. Bevor die Menschen weggebracht wurden, mussten sie ihre Habe in Pakete packen und genau beschriften. Deshalb die „Kontrollen“. Wertvolle Gegenstände wie Kunstobjekte, Porzellan oder Besteck waren schon vorher konfisziert worden. Was dann nicht von den Nachbarn geplündert wurde, gelang oft auf den „Hamburger Markt“, wo es für günstige Preise die Besitzer wechselte. Es stand nicht direkt dabei, aber jeder wusste, wo die Dinge herstammten. Soviel zur landläufigen Aussage: Wir haben nichts gewusst.

In unserer Gegend ist zu beobachten, dass es deutliche Ablehnung von politischem Engagement, gar in Parteien, gibt. Können Sie diese Haltung verstehen?

Ingrid Lewek | Mein Verstehen ist, dass ich auch ein politischer Mensch bin. Das heißt, in die Verantwortung für die Stadt und die Gesellschaft eingebunden zu sein. Das ist ein allgemeiner Auftrag für alle, sofern sie das können. Auf der Suche nach Menschen, die sich mit ums Wissen und Denken kümmern, habe ich immer Leute gefunden. Natürlich ist überall etwas, was einen ärgert. Doch nach der Wende war mir schnell klar: wenn eine Partei, dann nur die SPD. So bin ich seit 1993 Mitglied des Radebeuler Ortsvereins der SPD. Eins muss man wissen: Harmlos und gutgläubig darf man nicht in die Politik gehen. Da muss ich an die Gründungszeit der SPD 1990 in Sachsen denken und heute noch schmunzeln. Einer sagte damals: Wir müssen erst einmal lernen, dass man bezahlen muss, was man vorhat. Das habe ich schon als Kind und als Hausfrau gelernt! Im Ernst: Der kritische Austausch und der Abgleich der Interessen sind wichtig. Dafür braucht es einen politischen Ort. Irgendwann gewöhnt man sich daran, dass es Grenzen des Machbaren und Möglichen gibt.

Was können wir heute tun?

Ingrid Lewek |Wir können dafür sorgen, dass das geschieht, was die Nazis immer verhindern wollten und Leugner heute noch nicht wollen: Dass verfolgte und getötete Menschen ihren Namen und ihr Gesicht behalten können. Und dass es nicht wieder passiert, was damals geschah, dass zu wenig entgegnet wird. Hinschauen ist auch heute Pflicht, Zurückziehen hilft nicht. Ich halte es da sehr mit Imre Kertesz*, der gesagt hat: Der Mensch ist geschaffen, um zu wissen und zu denken. Wir können uns weder das eine oder das andere ersparen. Wir sind verpflichtet, uns wissend machen. Das hat mich gerade in dieser Weihnachtszeit sehr beschäftigt. Dieses Stück Arbeit müssen wir, jeder der es kann, leisten! Und ist es nicht auch etwas sehr Schönes, nachzudenken, Zusammenhänge zu erkennen und mit anderen darüber zu reden?

Für das Gespräch mit Ingrid Lewek bedankt sich Christine Ruby

*ungarischer Schriftsteller, Nobelpreisträger, 1929 – 2016
Die Gedenkstunde des Bundestages am 27. Januar beginnt um 11 Uhr und wird live im Internet unter www.bundestag.de übertragen.
Der Couragepreisverein veröffentlicht auf seiner Homepage www.couragepreis.de eine Videobotschaft zum Thema
Für ein stilles Gedenken treffen sich Radebeuler*innen am 27. Januar 2021 am Erinnerungsstein auf dem Rosa-Luxemburg-Platz ab 17 Uhr.
Dort können Blumen niedergelegt werden.

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